berliner szenen
: Der Urtrieb des Arschlochs

Die Rathausstraße in Mitte um halb zwei Uhr morgens. Auf meinem Fahrrad bin ich die einzige Menschenseele weit und breit, bis mir in der Ferne ein Auto entgegenkommt. Dabei wechselt es plötzlich die Fahrbahn und hält auf der von ihm aus gesehen linken Straßenseite mit hoher Geschwindigkeit direkt auf mich zu. Doch was heißt schon „es“? Ich bin mir sicher, dass dem ein Plan des Fahrers zugrunde liegt.

Er also zwingt mich dazu, schutzsuchend in eine Parklücke auszuweichen und anzuhalten; er macht das gekonnt wie ein Zivilbulle, soeben noch kontrolliert haarscharf an meiner Tötung vorbei. Wahrscheinlich handelt es sich einfach um einen. Er stellt mich. Lässt dann die Seitenscheibe herunter und brüllt mich an: „Dein Scheinwerfer blendet.“ Mein Radlicht. Blendet ihn. Er duzt mich. Ich werde von Autofahrern oft angebrüllt und (zum Teil mit dem Tode) bedroht, das ist Alltag in Berlin und vielleicht einfach auch typisch für satte Friedenszeiten, in denen der Urtrieb des Arschlochs, andere auf Grundlage eines wahnhaften Geltungsdrangs zu schädigen, nicht mittels legalisiertem Waffengebrauch gestillt wird.

Seine Aktion ist für mich dennoch der absolute Tiefpunkt in dieser traurigen Sportart. Gefährlich wirkt er nicht – eher so der Typ cholerische Null –, da hatte ich sicher schon furchteinflößendere Händel. Aber der Grad seiner Anmaßung ist moralisch so niederschmetternd, dass ich von einer lähmenden Resignation gepackt werde, die mir die letzte Hoffnung auf die Menschheit raubt. Daher höre ich mir sein Geschrei einfach nur an, um dann so kraft- wie tonlos, doch dafür umso unorigineller zu antworten: „Ich ruf die Polizei.“ – „Mach doch“, schreit er. „Dann bestrafen die dich gleich.“ Es ist so irre. Er startet mit quietschenden Reifen und rast davon.

Uli Hannemann