Rundumschlag

DOKUMENTARFILM Das 52. Internationale Festival für Dokumentar- und Animationsfilm Leipzig zeigte sich filmpolitisch kritisch und filmästhetisch auf hohem Niveau

Auch bei einer Podiumsdiskussion, die sich mit der Zukunft von Arte beschäftigte, flogen die Fetzen

VON DETLEF KUHLBRODT

Nach 330 Filmen aus 69 Ländern ging am Sonntag das 52. Internationale Festival für Dokumentar- und Animationsfilm in Leipzig zu Ende. Der aktuelle Jahrgang des größten deutschen und weltweit ältesten Dokumentarfilmfestivals war sehr gut. Mit dem Gewinner der Goldenen Taube, dem französischen Film „Les Arrivants“ („Die Ankommenden“), der jenseits der üblichen Schwarz-Weiß-Malerei vom Alltag in der Pariser CAFDA, einer städtischen Anlaufstelle für asylsuchende Familien, erzählt, waren alle zufrieden. Die Zuschauerzahlen entsprachen in etwa denen der Jubiläumsausgabe von 2007 (31.000), das Niveau der gezeigten Filme war sehr hoch, vor allem wurden die Widersprüche nicht in Wohlwollen aufgelöst.

In seiner Eröffnungsrede geißelte Festivalchef Claas Danielsen „die Verdrängung“ des Dokumentarfilmgenres. Weil die Programmverantwortlichen der Fernsehsender die Zuschauer nur für „eingeschränkt aufnahmefähig und etwas zurückgeblieben“ hielten, würden auch Dokumentationen hemmungslos durchformatiert, etwa durch ununterbrochene Kommentare. „Festgefügte Sendungsrezepte haben das Medium erstarren lassen. Hinter Formatfassaden verstecken sich die verantwortlichen Redakteure und machen sich unangreifbar.“ Themen, die jenseits des regionalen oder nationalen Sendegebiets angesiedelt sind, kämen fast nicht mehr vor, die durchgehende Synchronisierung nehme den Menschen vor der Kamera ihre Simme. Doch Claas Danielsens Rede bestand nicht nur aus der berechtigten und von vielen geteilten Fernsehkritik, sondern aus mehreren, teils auch sehr persönlichen Teilen.

Zunächst erläuterte er, was für ihn gute Dokumentarfilme auszeichnen: unbequeme Fragen zu stellen, eine erkennbare subjektive und authentische Haltung zu haben, angreifbar zu sein. Später stand er für seine Vorgaben ein und nahm Partei für diejenigen, die im Fernsehen für ein besseres Fernsehen kämpfen. Denn dass er und das Leipziger Festival gleichzeitig mit dem Fernsehen in einem Boot sitzen, war ihm natürlich klar.

Der Fernsehdirektor des MDR, Wolfgang Vietze, reagierte tags darauf recht empört. Vor der Premiere des Films „Kennzeichen Kohl“, einer Koproduktion des MDR, die ihre Komik daraus zieht, dass alle fünf Protagonisten des Films Helmut Kohl heißen, ging er Danielsen sichtlich verärgert an. „Dieser Rundumschlag ist vernichtend und verletzend. Für den MDR ziehe ich mir die Jacke nicht an.“

Vietze ärgerte sich besonders, weil sein Sender sich mehr noch als in den letzten Jahren für das Festival engagiert hatte. Danielsen antwortete, er hoffe trotz Kritik auf einen konstruktiven Dialog. Am Rande befürchtete man, der MDR könne seine Unterstützung für das Festivals einschränken. Auch bei einer Podiumsdiskussion, die sich mit der Zukunft von Arte beschäftigte, flogen die Fetzen: dem öffentlich-rechtlichen Nischensender wurde nicht nur von Danielsen vorgeworfen, mittlerweile zu sehr nach Reichweiten und Einschaltquoten zu schielen. Der Programmdirektor von Arte, Christoph Hauser, bestritt das naturgemäß; 70 Millionen, also mehr als ein Drittel des Programmetats, gebe der Sender jährlich für Dokumentarfilme aus. Allerdings fallen wohl auch Reklamesendungen wie etwa die über „die Riesen in Berlin“ darunter.

Bestätigt wurde die Kritik jedoch von Thomas Grimms „Deutsch und frei“. Der 45-minütige Film spielt während der ersten freien Volkskammerwahlen 1990 im Erzgebirge und muss in seiner ursprünglich eingereichten Fassung eine wunderbare, bitterböse Satire gewesen sein, mit Berichten vom Wahlkampf der Deutschen Sexliga. Die veränderte Fernsehfassung allerdings tat keinem mehr weh.

Auch der polnische Regisseur Pawel Lozinski, der 1999 und 2004 in Leipzig eine Goldene Taube gewonnen hatte, war extrem genervt über das – polnische – Fernsehen. Ohne ihn zu fragen, hatte es seinen Film „Chemo“ beim Europäischen Fernsehpreis eingereicht, der nun nicht mehr im Wettbewerb um die Goldene Taube laufen konnte. Dass „Chemo“, eine großartige Dokumentation über Patienten einer Krebsstation, die sich beim Warten auf die Chemotherapie unterhalten, nicht nur den Europäischen Fernsehpreis, sondern in Leipzig auch vom MDR ausgezeichnet wurde, war nur ein schwacher Trost.

Der diesjährige Wettbewerb in Leipzig war so gut wie selten: Es gab den neuen Film „Berlin–Stettin“ des Altmeisters Volker Koepp, der souverän mäandernd zwischen 1945 und der Gegenwart den Weg zwischen den beiden Städten geht; die mit der Silbernen Taube ausgezeichnete kolumbianische Dokumentation „La Casa“, die nicht nur von den extremen Schwierigkeiten berichtet, unter denen eine am Rande Bogotás lebende Familie ihre Würde zu bewahren sucht, sondern auch die seelischen Beschädigungen zeigt, die durch die große Armut entstehen; es gab den bildmächtigen, fantastischen neuen Film der finnischen Dokumentaristin Pirjo Honkasolo („Tanjuska and the 7 Devils“), der von einem ehemaligen Boxer, der zum buddhistischen Priester wurde, erzählt, und „Die Frau mit den 5 Elefanten“, Vadim Jendreykos beeindruckendes Porträt der 86-jährigen Dostojewski-Übersetzerin Svetlana Geier.

Und dann waren da noch die Kurzfilme, die begeisterten: „The Marina Experiment“ etwa, der 17-minütige Film der US-Regisseurin Marina Lutz, die rekonstruiert, wie ihr Vater ihre Kindheit und Jugend lückenlos mit Fotos, Film und Audioaufnahmen festhält, und das teilweise am Rande der Pornografie.