ZEIT.ORTE

No More Miserable Mondays

Philipp Rhensius ist Autor, Journalist, Musiker (Kl.ne, aphtc, INRA), Soziologe, Musikwissenschaftler und Redakteur (Norient Magazine, Kunst+Film). Seine Texte umkreisen die Politik des Alltags, Musik, Film, Literatur und Philosophie und erscheinen u.a. in: Taz, Spex, Süddeutsche, Frankfurter Allgemeine, Jungle World und diversen Buchbänden. Die vorliegende Geschichte entstammt dem Manuskript eines Buchprojekts, das von der exorbitanten Angemessenheit des Jetzt, dem Horror Vacui des Alltags und der Erotik der Entfremdung handelt.

Philipp Rhensius

Ich habe einen goldenen Reißverschluss und höre das Stück „For Ann“ von James Tenney. Ich stehe auf einem Berg und reflektiere die Menge meiner Blutkörperchen, von denen immer alle reden. Ich frage: Was fühlst du, wenn du wie Jean-Paul Belmondo wegen ihres unverblümten Charmes ihrer Impulsivität unterworfen bist? Liebe ist keine Lüge, sie ist eine Lösung. Ein zähflüssiges Gemisch aus Du und Ich, Wir und Sie, Kino und Theater, Konsonanten und Vokalen, Strophen und Refrains, Sackgassen und Horizonten, fest und flüssig, heiß und kalt.

Plötzlich wurde er wach. Es war spät. Er hatte verschlafen. Sein Kopf pochte im halben Tempo seines Herzschlags, als er den zehnten Stock herunterrannte. Vorbei am kalten Rauch, der jeden Morgen das Treppenhaus kolonisierte, vorbei an der Zahnarztpraxis, aus der nie jemand ein- oder ausging, vorbei an den Alufoliefetzen, in denen Verzweifelte jede Nacht ihre toxischen Heilsbringer verdampften. Menschen, die sich Fotos von sich in Spiegeln reflektierenden Menschen anschauen und damit andere Menschen mit ihrer Melancholie anstecken, haben nicht verstanden, dass Fotografien gewalttätig sind, weil sie nie das Bedürfnis nach Erinnerung stillen. Sondern nur die menschliche Tragödie der Vergänglichkeit reproduzieren. Dieser Text hat kein Selbstmitleid, auch wenn er den Anschein erweckt. Es geht um die Beschreibung eines Jetzt als das erste Skript einer Zukunft.

Das Foto eines sonnenbeleuchteten Waldstücks bekam 7 Likes nach 5 Minuten.

An diesem Montagmorgen also genoss er die Poesie des Nichtereignisses. Die Straßen waren stumm, doch ihr Schweigen war sehr laut. In hellen Räumen saßen Gestalten ohne Kontext außer ihrer Präsenz. Draußen waren etliche Köpfe damit beschäftigt, die Erotik der unter zu großen Jacken verborgenen Körper zu erahnen. Denn es war Winter. Und der Winter war dazu da, vage zu sein und die Schönheit in kleine Teile zu zerstückeln, um der Sehnsucht ein fairer Gegner sein zu können. Wenn Blicke sich treffen, waren es nur vermeintlich dem Zufall geschuldete Momente. Nein, es waren planetare Wahrheiten, die aber selten so verstanden wurden. Liebe ist nur dort, wo sie auch angemessen vermarktet wird.

An der defekten Rolltreppe der U-Bahn erinnerte er sich an ein Gespräch mit seinem Nachbarn. „Was die damals alles geplant haben in den KZs, das kann man ja kaum glauben“, sagte er. „Die haben die Treppen so gebaut, dass jede Stufe unterschiedlich hoch war, sodass man immer gestolpert ist. Krank war das. Oder, wenn ich das mal so sagen darf, raffiniert.“

Gestern wurde im Radio berichtet, Sepsis sei die dritthäufigste Todesursache in Krankenhäusern. Laut einer Statistik aus den Niederlanden habe der Einsatz einer neuen Emergency Commission zur Bekämpfung von Sepsis die Hälfte der Herz-Kreislauf-Kollaps- und Todesfälle um 50 Prozent reduziert.

Die U-Bahn war wie so oft ein Stereoskop der Großstadt: Einige Passagiere wischten nach traditionellen Kriterien analysierte Männer und Frauen hin und her. Einfach so. Natürlich nicht wirklich, nur digital, versteht sich. Ein Mann sagt einer Frau, mit ein bisschen Aufwand könne sie „Head of Product“ werden. Zwei Kinder umkreisten eine Mittelstange, um die Welt zu vergessen. (Die Ekstase der Kinder ist wie die der Erwachsenen, aber spontaner, freier, aus der Drehung heraus.) Ein Mann trägt einen Pullover, dessen perfekte Maschen im Kontrast zu den Verirrungen des 21. Jahrhunderts standen, die allen anderen hier diese besondere Lust am Obskuren verschaffte. Ein Obdachloser stürzt, blickt verschlagen auf und ruft: „Wie sagt man so schön, auf dem Boden der Tatsachen.“ Das Berliner Fenster erzählt von einer Kunstausstellung (sie habe gesellschaftskritischen Anspruch, gebe den Menschen ohne Stimme eine Plattform). Eine Mutter sagt zu ihrem kleinen Sohn: „Wenn du deine Erzieherinnen küsst, dann nur auf die Backe, nicht auf den Mund.“

Das Reale in der Welt besteht aus Extremen – Mittelwerte entstehen nur im Computer.

„Tja, vielleicht können wir nicht alle so wilde Berliner sein wie ihr“, sagte die Schriftstellerin in New York zu ihrer Freundin Hannah Arendt im gleichnamigen Film. Das war Mitte der 1950er Jahre. Heute ist das anders. Da steigen Menschen am Kurfürstendamm aus, wo Männer in nach vorne spitz zulaufenden Schuhen neue Produkte hinter frisch geputzten Schaufenstern anstarren. Ihre obere Körperhälfte ist dann leicht nach vorne gebeugt, um den Waren ein bisschen näher zu sein. Um das Gefühl der verlorenen gegangenen Zukunft durch den kurzen Schauer des Updates wenigstens für einen kurzen Moment zu vergessen.

Am Abend auf dem Magazinlaunch stellte sich einmal mehr heraus, dass kommerzielle Musik subjektive Bedeutungen aufsaugt wie ein Schwamm. Ein Mann hielt eine Bierflasche wie einen Revolver und erzählt einer Frau, Katalonien habe seine Unabhängigkeit erklärt. Dann ist das DJ-Set endlich vorbei, und zwei aus alten Otto-Katalogen ausgeschnittene und zum Leben erweckte Menschen drehen ihre Köpfe zu denkbar vermeidbaren Gesprächen ineinander. Ein Breakbeat ertränkte das Szenario in Nostalgie. Er vermisste seine Mutter, und wie sie ihm als Kind über den Kopf streichelte, als wäre es die einzige logische Handlung in diesem Moment. Sechs Milliarden Menschen, doch nur er war es wert, von ihr gestreichelt zu werden. Exzessive Genügsamkeit.

Später im Kino wurden Schicksale, so brutal und verächtlich wie in griechischen Mythen, an die Wand projiziert und wir sollen das alles dann verdauen. Wir sollen die real wirkende Gewalt an realen Menschen akzeptieren und sie mit den Waffen unserer Kognition auf Metaphern herunterbrechen und danach, als sei nichts gewesen, zurück auf die Straße, Kaffee trinken gehen.

Verschachtelte 4/4-Bassdrums egalisieren gut, wenn du das mit den richtigen Synkopen flankierst.

In der Nacht gähnten die Hotels ihren grellen Widerschein auf die Straßenwüsten, die breit genug waren für ein ganzes Bataillon aus Panzern und schweren Waffen. In den Nischen der Stadt simuliert ein Offbeat eine aufdringliche Gelassenheit, um dem Leben zu beweisen, dass sich die Welt nicht immer, aber doch bevorzugt, Gott behüte es, um dessen eigene Achse dreht:

Ein paar Jugendliche lungern im Park und hören, der Stille der Nacht trotzend, nihilistischen Drum & Bass und bleiben im Jetzt. Denn sie wussten nicht, was sie tun. In der Bar nebenan sitzt eine Gruppe Männer, die sich mit ihrem ausufernden Biergenuss ihrer Männlichkeit versichern. Denn sie wussten, wollten aber verdrängen, was sie tun. Dahinter ein älteres Paar, in den dunklen Horizont starrend, als läge dort die Antwort aller ihrer Fragen. Denn sie wollten nicht, was sie tun.

Das Problem heterosexueller Beziehungen: ständig versuchen, sich in den anderen hineinzuversetzen und daran immer wieder scheitern.

Am nächsten Tag beamte ihn das Parfum der alten Dame in eine Zeit, an die er sich nur in Zeitlupe erinnert. Als seine Oma noch lebte, und er noch nicht ahnte, dass die Familie nicht die Menschheit und das Zuhause nicht die Welt ist. Die Welt der Frauen da vorne hat sich nie wirklich vergrößert. Sie lachen laut, als eine Frau an ihnen vorbeispaziert, deren Gesicht vom regen Konsum harter Drogen gezeichnet ist. Dabei ist sie allen modischen Hipster-Fantasien überlegen, trägt einen pinken Jogginganzug mit schwarzen Schriftzügen, kombiniert mit weißen Basketball-Turnschuhen und einer ornamentierten Goldkette.

Das Lachen der Frauen war dasselbe Lachen, das er aus seiner Schulzeit kennt. Das Lachen als Waffe, um das Unkonventionelle und Ungewöhnliche, alles nicht in das konfektionierte Weltbild Passende in einer sich auf die Dummheit der Mehrheit stützenden Geste aufzulösen. Das gehässige, von sich selbst überzeugte Lachen der Gruppe, aufgeputscht vom Imperativ des arbeitsfreien Sonntagnachmittags, war der beste Beweis dafür, das in den jüngsten Wahlen mehr als Protest steckte. Es offenbarte, was sonst unter der Kruste postmoderner Distinktion und Social-Media-Glückseligkeit verborgen bleibt: die identitätsstiftende Sehnsucht nach Abgrenzung, jener xenophobe Reflex, der die Rechten seit einigen Jahren mit steigendem politischem Einfluss versorgt. Nietzsche hatte recht: Alle Ressentiments entspringen Ohnmacht. Aber diese Ohnmacht ist keine wirkliche, sondern nur eingebildet. Es ist eine Allmacht der gefährlichen Mitte, die sich in der kulturellen Überlegenheit suhlt.

Euer Kaugummikauen ist nur ein stummer Schrei nach Liebe.

Später ging er in eine Bar. Leben simulieren. Während er versuchte, die von den – historisch gesehen – zum ästhetischen Hohn gewordenen Kadenzen des Klaviers zu ignorieren, beschloss er, von heute an ein neues Leben zu beginnen. Ein Leben, das nach allen Seiten offen war, das sich in jeder Sekunde und von einem auf den anderen Moment in eine andere Richtung wenden konnte: sich die Welt stetig fremd zu machen, jede Straße wie ein Labyrinth zu begehen, Filme zu schauen, als schauten sie eigentlich ihn, Musik zu hören, als ob sie eigentlich ihm zuhört. No more miserable mondays.

Es ist wichtig, sich die Welt anzuschauen, um den eigenen Platz zu kennen und die Relationen der verborgenen Mächte auszugraben. Ihm war alles andere als egal, was Mark Fisher über die Privatisierung von Stress schreibt. Er möchte nur nicht jeden Morgen immer wieder aufs Neue von seinem Duschgel („Feel Glamorous“, „Meeresrauschen“) angelogen werden. Denn: Eure Wirklichkeit ist meine Vorabendserie. Meine Wirklichkeit ist euer Thriller. Eure Gespräche sind meine Zufallsgeneratoren. Eure Perfektion sind meine Glitches. Meine Pfade eure Irrwege. Euer Tod meine Wiedergeburt. Eure Wiesen mein Asphalt. Meine Schreie euer Flüstern. Euer Stolpern meine Balance.