Gruppenbild mit Comandante

Archäologe und Archivar der Revolution: Fernando Bryce zeichnet anhand historischer Vorlagen den gesellschaftlichen Wandel Lateinamerikas nach. Die Galerie Barbara Thumm zeigt zwei neue Serien des peruanischen Künstlers

Kürzlich hat Fidel Castro den USA großzügig und propagandistisch klug Hilfe für die Opfer in New Orleans angeboten. 46 Jahre alt ist die kubanische Revolution mittlerweile und den USA nach wie vor ein Dorn im Auge. Trotz aller konterrevolutionären Aktivitäten und vielen gescheiterten Attentatsversuchen seitens der USA auf Castro wäre das revolutionäre Projekt bereits zu purer Geschichte geronnen, wenn sich nicht ab und an ebenjene legendäre und mythenumrankte Figur des Comandante Fidel zu Wort melden würde.

An die kubanische Revolution erinnert derzeit Fernando Bryce in der Galerie Barbara Thumm. Bryce, 1965 in Lima, Peru, geboren, setzt sich seit Jahren massiv mit den revolutionären Prozessen nicht nur Lateinamerikas auseinander. In ausführlichen Recherchen sammelt er Druckerzeugnisse wie Filmplakate, Zeitungen, Briefe und Werbung, um sie auf ca. DIN-A4-große Blätter zu zeichnen. So entstand 2001 etwa der „Peru-Atlas“ mit 494 einzelnen Tuschezeichnungen, der auf der Istanbul Biennale 2003 zu sehen war.

In seiner aktuellen Ausstellung werden zwei neue und nicht ganz so umfangreiche Serien präsentiert. Zum einen der 219 Blätter umfassende und nach der kubanischen Zeitung der 60er-Jahre benannte Zyklus „Revolución“; und zum anderen der 44-teilige Zyklus „Américas“ mit Covern der gleichnamigen monatlich erscheinenden Zeitschrift der Organisation amerikanischer Staaten. Gleich einem Fries der Geschichte zieht sich das breite Band der gerahmten Zeichnungen die Galeriewände entlang. Es treten auf: offizielle Verlautbarungen in der Zeitung, Titelseiten von Illustrierten, Konzertankündigungen, Ikonen der Pressefotografie und Reflexionen internationaler Geschehnisse in der Presse Kubas.

Die mediale Brechung durch die Rückführung von Printmedien in das subjektive und älteste Medium der Menschheit, die Zeichnung, ist Verfremdung und Ästhetisierung zugleich. Bryce begibt sich mit einem an Walter Benjamin im „Passagenwerk“ erinnernden Blick durch die Archive der Revolution und fördert ausgewählte Bilder und Nachrichten zutage (tatsächlich widmete Bryce 2002 auch Benjamin eine zehnteilige Serie).

Die historisch anmutenden Zeichnungen erinnern an die in den 20er- und 30er-Jahren verbreiteten Comics. Gegenläufige Tendenzen, repräsentiert durch die verschiedenen Kategorien von Bildern und Texten sowie die diversen Zeitungsrubriken, kommentieren sich scheinbar zufällig gegenseitig und spielen auf das unkoordinierte Arsenal der medialen Alltagswelt an. Während im Zyklus „Revolución“ ein erfolgreicher Auf- und Ausbruch aus der Geschichte Lateinamerikas mit seinen Widersprüchen zu sehen ist, sind die Titelblätter des „Américas“-Zyklus ein Indiz für die konservative Geschichtsschreibung, in der die Darstellung auf die herrschende Klasse und ihre Politiker lateinamerikanischer Staaten reduziert wird. Die Verbindung von Kapitalismus mit einer noch nicht an der Theologie der Befreiung, sondern an obrigkeitsstaatlich orientierter Ideologie kommt besonders in einem Titelblatt von 1954 in bizarrer Weise zum Ausdruck: Eine kniende und betende Puppe wird als der neueste Schrei in der Welt des Kinderspielzeugs angepriesen. Aus dem „Revolución“-Zyklus dagegen sticht eine sportlich gekleidete Kubanerin auf dem Titel der Zeitschrift Trabajo (Arbeit) heraus. Das vorrevolutionäre Kuba unter Fulgencio Batista war das Refugium der latein- und US-amerikanischen Bourgeoisie, die sich mit Festen, Skandalen und Casinospielen einem dekadenten Dolce Vita hingab, während die arme Bevölkerung in der medialen Welt kaum ein Gesicht hatte. Bryce hat den Wandel, der mit der Revolution stattgefunden hat, im Blick: Auf dem Titelblatt, das er ausgewählt hat, wird der modische Chic mit der Einrichtung von Freizeitangeboten für die arbeitende Klasse auf attraktive Weise verknüpft.

MATTHIAS REICHELT

Bis 22. 10., Di.–Fr. 11–18, Sa. 13–18 Uhr, Galerie Barbara Thumm, Dircksenstr. 41