ZEIT.ORTE

René Hamann, 1971 in Solingen-Ohligs geboren, studierte in Köln und arbeitet als Autor und freier Mitarbeiter der taz. Er lebt in Berlin-Neukölln. Im Jahr 2006 erhielt er den Lauter-Niemand-Lyrikpreis. Zuletzt erschien das Buch „Die Suche nach dem Glam“ in der edition taberna kritika, Bern.

Warnung vor dem Bösen (3)Stück in mehr als 9 Szenen

René Hamann

In der Ära des iPhone 8. Aus der Zeit vor dem BER

Über mein Telefon kann ich die Musik der anderen empfangen, also derjenigen, die in meiner Nähe Musik hören. Eine Funkverbindung in die Geräte der anderen. Eine junge Frau mit mattbrauner Haut hört undefinierbaren Hard Trance Techno. Ein Stöpsel, vielleicht zwölf, hört Die Ärzte. Die Kakophonie stört mich, also nehme ich die Stöpsel wieder raus.

„Wie war’s im Schnee, Hase?“

„Schön war’s.“

„Was machst du?“

„Ich eile davon.“

Auf dem Schopf im Sitz vor mir erkenne ich ein graues Haar, von dem ihre Trägerin vermutlich noch nichts weiß. Eine andere Frau sitzt da mit Kapuze auf. Als sie sich erhebt, um an ihren Koffer zu gelangen, der sich in der Gepäckablage befindet, hängen ihre Haare aus der Kapuze heraus. Astbraun, voll, kämmbar.

Eine recht lange Strecke. Eine langweilig lange Fahrt. Als ich um 11 auf die Uhr schaue, ist es erst halb neun. Ich sehe den Leuten beim Aussteigen zu.

„Schließt sich eine Tür, öffnet sich keine andere. Es ist nur eine weitere Tür zu. Wie man in den Wald ruft, so schallt es auch auf keinen Fall hinaus – im Gegenteil, man erntet Schweigen. Und nichts ergibt sich. Aus dem einen ergibt sich auf keinen Fall das andere. Das eine ist das eine, abgeschlossen, fertig. Danach kann man wieder von vorne anfangen.“

„Ich bin so fett, ich sehe aus wie Uwe Johnson.“

George Michael, im Endstadium.“

„Die Zeit hat sich Zeit gelassen. Die Rache erfolgte spät.“

„Krebs. Hirntumor.“

„Wohl zu viel schlechte Musik gehört.“

„Er hatte so eine Vorliebe für Frauen mit Schilddrüsenunterfunktion. Schildkrötenfrauen, nannte er die.“

„Frauen mit Schildkröten.“

„Mit Funktion.“

„Mit Unterfunktion.“

U 6 Wedding–Mehringdamm

Ein Telefon klingelt. Der Klingelton ist ein gemischter Chor, der ein hohes A singt. Reflexhaft schaue ich auf mein Handy, doch da tut sich nicht viel (und mein Klingelton klingt anders). Eine befreundete Paartherapeutin fragt via Facebook, was Liebe ist. Aber das weiß ich auch nicht so genau.

„Greise im Gangnam-Style. Altenheimopfer, die tanzen wie eine Boygroup. Senioren im La La Land. Erinnert mich an Karneval. An die Herrensitzung, auf der ein Männerballett in Frauenkostümen auftritt und alle finden es total lustig.“

Es ist ungewöhnlich, jemanden zweimal kurz hinterein­ander in der U-Bahn zu sehen.

„Reiche Frauen suchen Liebe.“

„Ein Kreislauf fährt U-Bahn.“

Sie ist die Frau mit der Umschaltfunktion. Eine Frau, die von einem Moment auf den anderen von einfühlsam auf gefühlskalt umschalten kann, von Freundin auf Eiskönigin. Er träumt davon, sie verlassen zu können. Sie zu verlassen, obwohl sie ihm das nicht zutraut. Aber ja, er steigt tatsächlich hinunter zum Bahnhof, um einen Zug woandershin zu nehmen, abzureisen, zumindest für ein paar Tage. Ein paar Tage ohne sie. Sie aber liebt ihn. Aufrichtig und immer noch. Erwähnt man seinen Namen während seiner Abwesenheit, schaut sie reflexhaft auf ihr Handy, um zu checken, ob er sich gemeldet hat.

Heute trägt sie ein T-Shirt, auf dem steht: SAME CLINIC, DIFFERENT DAY. Sie sitzt in der U 6 und legt ihr rechtes Bein über die Beine ihrer neben ihr sitzenden Freundin. (Eine von diesen neuen Gesten, die man jetzt öfter sieht.) Sie trägt blickdichte Strumpfhosen. Als sie ihn zum ersten Mal gesehen hat, vor gut acht Jahren, hat sie ihn angelächelt, weil sie ihn für irgendwie wichtig hielt. Als sie ihm das gestanden hatte, Jahre später, war er sauer gewesen. Sie hielt das für eine Geschichte, die für ihn sprach.

Er steht draußen am Bahnsteig und mustert die Werbung für eine Partnerbörse im Netz. 11 Minuten bis zur nächsten Bahn. Wo war noch mal das gute Leben? Also, hier ist es nicht. Frauen mit Ohrstöpseln und islamistischen Motiven auf den Blusen oder Halstüchern. Sie wollen das Glück und sie wollen es sofort. Aber immer muss alles eckig sein. Kanten haben. Er hätte es lieber rund.

Niemand schreibt noch Stellenanzeigen. Niemand schreibt noch Heiratsannoncen wie: „Du hast gestern in der U 6 nach Mehringdamm gesessen und mich keines Blickes gewürdigt, bitte schreibe mir unter Chiffre …“

„Die Zeitpläne sind angespannt.“

„Ich mache nur Dienst nach Vorschrift.“

Sie ließ ihn warten, damals, als sie ihr erstes Date hatten. Stieg in die falsche U-Bahn, kam eine halbe Stunde zu spät. Er war aufgebracht. Es war eine Gelegenheit, sie seinen Freunden vorzustellen. Die hatte sie verpasst. Vielleicht absichtlich (wie er vermutete), vielleicht nicht (wie sie glaubte).

U 7 Mehringdamm–Hermannplatz

„Willst du Lakritz?“

„Nein, das ist nicht so mein Geschmack, nicht so richtig.“

Das Superschmatz mit Freund. Auf dem Vierer gegenüber. Hellblond, rote Brille, wasserfarbenblaue Augen, bleiche Haut. Ich muss immer wieder hinstarren. Sie beachtet mich nicht, sie ist mit ihrem Freund beschäftigt. Da muss doch mal was gewesen sein. An wen erinnert mich dieser Typus? Und warum immer genau dieser?

„Wo ich bin? In der U 7 nach BER. Über Rudow und Regierungsflughafen. Hahaha.“

Der nächste Straßenzeitungsverkäufer, der seine Verkaufsmasche herunterleiert. Das ist als Beschreibung schon langweilig. Das Anbiedernde, das Störende, das Kommerzielle. Sie verkaufen ihr Elend. Eine Fahrt quer durch die Stadt: drei Straßenzeitungsverkäufer, zweimal Motz, einmal Streem, drei Straßenmusikanten. Immerhin niemand, der keine Gegenleistung anbietet. Die gewöhnlichen Bettler können sich die U-Bahn nicht leisten. Die hängen an den Ausgängen herum.

Dass einen niemand anspricht, dass sich kein Flirt ergibt, hängt auch damit zusammen: Man will seine Ruhe, man will nicht angesprochen werden, weil man es doch ständig wird. Nicht nur von den Straßenzeitungsverkäufern, auch von Flugblattirren, von Telefongesellschaftswerbern, von Umweltverbänden, von Parteien, Sekten, anderen religiösen Spinnern, von allem, was unangenehm ist. Auch daher die Bewehrung mit Ohrstöpseln und kleinen Bildschirmen und Büchern und Zeitungen und geschlossenem Gesichtsausdruck.

„Das Licht ist komisch.“

„Das Licht ist überhaupt nicht komisch.“

„Das Licht ist voll grell.“

„Es ist fast Winter, Mann, es ist dunkel in der Erde, die Lichtfrequenz ist für diese Tageszeit voll angemessen.“

„Du drückst dich ganz schön gewählt aus für deinen Zustand.“

„Ich weiß mich zu beherrschen, Alter.“

U 8 Hermannplatz–Osloer Straße

Ein Kirchenchor auf dem Weg durch die Zwischenebene. Eine Altstimme setzt an, der halbe Chor stimmt ein. Ein Choral auf dem Weg zwischen zwei U-Bahn-Stationen.

Sichtbare Armut. Sie bringen uns gegeneinander auf. Sie zetteln einen Krieg an. Sie bekämpfen dabei nicht die Armut, sondern die Armen. Die Erstarrungstendenzen des sozialen Friedens. Diese Bilder gehören nirgendwohin.

Eine Gruppe Gebärdensprachler beschließt, einen Chor zu gründen.

Auf Kommando simultane Handbewegungen. Sie tragen Turnschuhe, Sneaker, die aussehen wie klobige Miniaturraumschiffe. Und wenn sie zu sprechen versuchen, kommt eine Art Kinderstimme aus ihnen heraus. Etwas Helles, Piepsiges.

„Ist doch so.“

„Warten Sie in Wartehallen.“

„Berlin hat keine Palmen. Ich bin von Köln hergezogen, das auch schon keine Palmen hatte. Was mache ich hier eigentlich?“

„Sie haben einen Ritter als Maskottchen.“

„Vielleicht ist Berlin ja ein pervertiertes L. A. Die Kehrseite zu Kalifornien. Voller Schmutz, Dreck, mit schlechtem Wetter, und die Träume haben sich schon beim Herzug erledigt.“

„Aber Kreuzberg ist doch nett. Das hat Charme.“

„Kreuzberg beeindruckt mich null. Der Charme des Kaputten, das ist doch auch nur so ein blöder Berliner Mythos.“

„Kreuzberg den Kreuzbergern.“

„Union schießt über das Ziel hinaus.“

„Sieht man zwei in diesen Schweizer Armeejacken nebeneinander stehen, denkt man gleich: Oh, Patrouille.“

„Guten Tag, meine Damen und Herren, entschuldigen Sie die Störung …“

„Man zahlt 1,70 Kurzstrecke, nur um belabert, belästigt, bestunken und angesteckt zu werden.“

„Ohren zustöpseln gegen die krakeelenden Besoffskis.“

„Wir hatten das alles schon.“

„Ja.“

Eine neue Frau gegenüber. Ist ihr augenscheinlich egal, dass sie angeguckt wird. Dennoch Verlegenheitsblick in die Spiegelwand, in die tunneldunklen Fensterscheiben. Tunnelblick. Das Spiegelbild, das besser aussieht als ich. Als ich in der Wirklichkeit. Als die Wirklichkeit selbst.

U 9 Osloer Straße–Kurfürstendamm

Jemand mit einem offenen Telefon. Schlagerwelt.

O La Paloma Blanca. Fiesta. Fiesta mexicana.

Pierce Brosnan Autogrammstunde 15 Uhr.

„Pierce Brosnan ist tot, Mann!“

„Nein, das ist Pierre Brice!“

„Ah, genau, stimmt.“

Immer ist da ein Mann mit Rucksack. Outdoor-Klamotten tief im Untergrund. Die Marke mit der Tatze, die Marke mit der Himmelsrichtung. Beides deutsche Marken, beide tragen englische Namen. Das ganze Dilemma auf den Punkt gebracht.

Zwei Hunde hecheln sich an. Ein Mann, graue Stoffhose, Socken in Sandalen, spielt auf seinem Handy Solitär. Eine Frau, blond, kniet vor einer Werbetafel nieder, einer Werbung für ein olivgrünes Auto einer französischen Marke unter dem englischen Slogan ATTACK THE FUTURE – so sieht es jedenfalls aus. Auf dem zweiten Blick kniet sie vor ihrer Tasche, in der sie etwas sucht (ihr Handy, vermutlich).

„Ich bin der einzig schreibende Mann in meiner Familie.“

Sie ist jung und hat alte Beine. Sie hat sichtbare Adern. Die Frau mit den haselnussbraunen Augen. Die Frau aus dem Wald, das Gegenteil von Rosa. Mit diesem etwas schief hängenden Blick, als ob sie einem immer auf den Mund schauen würde und nicht in die Augen. Was natürlich die Begierden weckt. Und die Brille auf der Hälfte der Nasenlänge. Ihr Telefon summt wie eine Wespe. Aber ihr sexuelles Kapital strahlt gar nicht so üppig, wie sie denkt. Sie erhält eine Nachricht. Sie sitzt in der Bahn und denkt nach. Kann eine Abweisung Genugtuung verschaffen?

Gegenüber sitzt eine andere Frau, die ihren Schlüsselbund an einer Schlaufe um den Hals trägt. 23 Schlüssel, mindestens. Mintgrüne Socken in schlabbrigen, abgetragenen Sandalen. Hängebauch, Hängetasche, Ende 50, Ende des Lebens.

So endet es dann.

Ich habe heute tatsächlich einen Rentner gesehen, der etwas in einen Mülleimer warf, statt etwas da herauszuholen.

Endlich eine Entwicklung: Die Chinesin mit den Mondturnschuhen und der Designerpornobrille und den vier oder fünf Ringen an den Fingern, erst schweigt sie und hat denselben leeren wie abwehrenden Blick aller junger Frauen in Berlin. Dann, als ich das nächste Mal aufschaue, um sie anzusehen, hat sie ihre Brille abgesetzt und blickt traurig nach rechts unten. Sie ist traurig. Sie sieht nach GEFÜHLEN aus. So etwas bekommt man nur noch selten zu sehen.

„Ich hatte mit Wärme gerechnet. Stattdessen verkühlte ich mich. Dabei ist es nicht kalt, es ist wärmer als zu Hause.“

„Auch im Süden kann man sich erkälten.“

„Von Stockholm aus ist alles Süden. Selbst Berlin.“