Links und frei

VON CHRISTIAN SEMLER

„La liberta communista“ (Die kommunistische Freiheit), so der Titel des 1946 erschienenen Buches des italienischen Philosphen Galvano della Volpe. Das Werk sorgte für Furore. Kommunismus und Freiheit zusammenzudenken – führte das nicht in einen Selbstwiderspruch, gemessen an der kritischen Haltung der kommunistischen „Klassiker“ gegenüber den Freiheiten, wie sie seit der Französischen Revolution proklamiert worden waren? Zeigte darüber hinaus nicht die Praxis des Sozialismus in der Sowjetunion, dass den Sowjetmenschen die elementaren Menschen- und Bürgerrechte verwehrt wurden?

So sehen es bis heute viele liberale Kritiker. Und seit dem Untergang des sowjetischen Hegemonialsystems gilt es nahezu als Gemeinplatz: Individuelle Freiheit und Sozialismus sind unvereinbar. Mit dem Siegeszug der „neoliberalen“ Strömung wird der freie Markt und das freie Privateigentum an Produktionsmitteln zur wesentlichen Voraussetzung einer Gesellschaft der Freien erklärt. Wie auch in den Übergangsgesellschaften Osteuropas die kapitalistische Produktionsweise und die freiheitliche Ordnung als Zwillingsschwestern auftreten. Du kriegst nur beide zusammen oder nix.

Diese Erkenntnis hat auch viele Kritiker des zeitgenössischen Kapitalismus dazu verführt, gegenüber individuellen Freiheiten eine eher ablehnende Haltung einzunehmen. Sie sehen in ihnen vor allem den Ausdruck des bürgerlichen Besitzindividualismus. Hier gelte Freiheit als „haben“ und „Noch mehr haben“. Auf dem Arbeitsmarkt verdecke die „Freiheit“ und „Gleichheit“ der Partner des Arbeitsvertrags, dass die Lohnabhängigen um des schieren Überlebens willen ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Der Arbeiter ist formal frei, aber diese Freiheit ist die Unfreiheit, die sich aus den realen ökonomischen Machtverhältnissen ergibt. Im Ergebnis dieser Analyse betonen viele Linke den wesentlich kollektiven Charakter des Kampfs gegen den Kapitalismus. Wie Solidarität sich nur in kollektiven Aktionen der Klasse bilden kann, so setzt sich auch eine solidarische Lebensweise im Sozialismus nur in kollektiven Lebensformen durch. Eine Individualität, die sich nicht an den objektiven Erfordernissen des Kollektivs ausrichtet, die ihren eigenen Weg zum Glück sucht, muss deshalb als „individualistisch“ abgelehnt, zumindest misstrauisch beäugt werden.

Können sich solche Auffassungen auf Marx stützen? Ich glaube nicht. Marx unterzieht in seinem gesamten Werk den Freiheitsbegriff der ideologischen Kritik. Für ihn besteht zwischen der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise und den Freiheits- und Gleichheitspostulaten der Philosophen oder Staatsdenker ein genetischer Zusammenhang. Auf der einen Seite, so Marx’ Kritik, wird die Freiheit der Person als Ausgangs- und als Endpunkt alles Nachdenkens über den Menschen postuliert. Diese Freiheit erscheint naturgegeben, losgelöst von allen gesellschaftlichen Bedingungen ihres Entstehens.

Andererseits werden in der Theorie alle empirischen Einschränkungen der Freiheit als notwendig, als selbst auferlegtes Vernunftgesetz ausgegeben. Wir leben in zwei Welten. In der politischen Welt agiert der vernunftbegabte, mit Freiheitsrechten ausgestattete Citoyen. In der Gesellschaft aber bestimmt der Bourgeois, herrschen Ausbeutung und Unterdrückung.

Schon im „Kommunistischen Manifest“ ziehen Marx und Engels aus dieser Analyse den Schluss: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines Jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Wäre nach dem, was landläufig über Marx verbreitet wird, nicht nahe liegend, das genau Umgedrehte zu vermuten: dass die freie Entwicklung aller die Bedingung der freien Entwicklung eines Jeden ist? Denkste. Die kollektive Aktion der Arbeiterklasse führt Marx zufolge nach der kurzen Durchgangsphase einer zentralisierten Diktatur zur „Assoziation“. Wer assoziiert sich? Die Individuen auf freiwilliger Basis. Zu welchem Ziel? Erst einmal, um den Produktionsprozess gemeinschaftlich und vernünftig zu meistern. Wir bewegen uns noch im Reich der Notwendigkeit. Dann aber, wenn die Arbeitsteilung schrittweise aufgehoben und durch die Entfaltung der Produktivkräfte die Arbeitszeit eingeschränkt werden kann, betreten wir das Reich der Freiheit. Das Reich der sich frei entfaltenden Individualität, die durch reale ökonomische Schranken nicht mehr gehemmt wird.

Natürlich geht es nicht ohne Assoziation, nicht ohne „Föderationen“, örtlich, regional, im allmählich absterbenden Nationalstaat, international. Hier teilt Marx, trotz heftiger Polemik gegen Michail Bakunin, die anarchistische Utopie einer Gemeinschaft ohne die hypostasierten Formen des Staates und des Rechts, die die Menschen bislang beherrschten. Die Geschichte des realen Sozialismus hat uns belehrt, dass diese Kritik ein von der Pariser Kommune gestifteter Traum war. In der Realität mündeten die Revolutionen in die rigideste Form staatlicher Herrschaft, den Partei-Staat.

Die „Verwaltung von Sachen“, als die sich Marx und Engels die Reste der Verwaltungstätigkeit ausmalten, erwies sich als Verwaltung von Menschen, als wären sie Sachen. Und die allseits entwickelte Persönlichkeit wurde zur allseits reduzierten. Dieses Ergebnis ist, darin hatte Bakunin Unrecht, nicht Marx zurechenbar. Denn weder war Marx selbst ein Möchtegern-Despot, noch lieferte er Material für den autoritären Sozialismus. Er war Denker der Freiheit.

Sicher erwies es sich als theoretischer Irrweg, die freiheitsverbürgenden Garantien des bürgerlichen Staates ebenso abzuschaffen wie die unabhängige Justiz, die horizontalen und vertikalen Kontrollen der politischen Macht. Und schließlich den Wettstreit der Parteien. Alles im Namen der ungeteilten Volkssouveränität, der unmittelbaren und direkten Demokratie. Heißt das aber heute, dass die Freiheit des Einzelnen nur der staatlichen Garantien bedarf – und keiner Rückendeckung, keiner Unterstützung durch „Assoziationen“, die nicht nach dem Machtstaats- oder Geldprinzip organisiert sind? Für Marx war die Assoziation Bauelement der künftigen Gesellschaft. Aber können wir nicht auch unter kapitalistischen Bedingungen von dieser Idee Gebrauch machen?

Freilich, solche Verbindungen sind instabil. Aber in der vielgliedrigen Gestalt der sozialen Bewegungen sind sie zu konstanten Elementen der Selbstorganisation geworden – und zu Schulen des Individualismus. Natürlich stehen die Aktivisten dieser Bewegungen unter dem Konformitätsdruck ihrer Gruppen. Aber es zeigte sich, dass Eigenverantwortung, geduldiger, freundlicher Umgang miteinander, dass Gleichberechtigung oft jene Ich-Stärke hervorbrachten, derer es bedarf, um dem Gemeinwohl, und sei es nur in kleinen Bereichen, zum Durchbruch zu verhelfen.

Damit ist jedoch nichts gegen jene Einzelkämpfer gesagt, die allein auf sich gestellt so viel freie Individualität aufbrachten, gegen ein tyrannisches Regime oder gegen ungerechte Zustände aufzustehen. Oder die es wagten, auch denen zu widersprechen, die das Interpretationsmonopol über richtige und falsche Formen der Freiheit beanspruchten. Die Linken haben in der Vergangenheit solche Formen freier Individualität gering geschätzt, dies umso mehr, als Einzelkämpfer oft schwer erträgliche Querköpfe sind. Weshalb die Qualität einer Assoziation im Marx’schen Sinn sich unter anderem daran bemisst, ob sie Einzelkämpfern ihren freien Raum belässt.

Von alters her unterscheidet man zwischen „Freiheit von“ und „Freiheit wozu“. Unter die erste Rubrik werden die Freiheiten gezählt, die es gegen die Anmaßungen staatlicher Gewalt zu verteidigen gilt. „Freiheit wozu“ meint hingegen die Befähigung einer Person, die in ihm ruhenden Potenziale frei zu entfalten.

Es geht um freie Individualität als Selbstverwirklichung. In diesem Sinn ist Marx sicher in erster Linie ein Denker des „Freiheit wozu“. Und deshalb steht er auch bei den Anhängern eines ausschließlich negativen Freiheitsbegriffs, eben der „Freiheit von“, unter dem Generalverdacht des Totalitarismus. Denn „Freiheit wozu“ setze den Bezug zur Gesellschaft voraus, in der sich das „Selbst“ verwirklichen könne.

Für die Linke sollte eine solche Differenzierung sinnlos sein. In ihrer Praxis verteidigen die Linken Freiheitsrechte, ein Kampfplatz, auf dem die FDP-„Liberalen“ entgegen ihrem Anspruch ziemlich unzuverlässig agieren. Aber wenn Linke über Individualismus reden, müssen sie das Terrain der Verteidigung überschreiten. Sie werden weiter fragen: „Freiheit wozu?“