Die Leere nach dem Vollzug

MUSICAL Die Uraufführung des Rockmusicals „Nackt“ von Christian von Götz am Musical Theater Bremen sucht der Beliebigkeit vergebens zu entkommen. Und zeigt stattdessen schale Sexgymnastik

Männer als schwadronierende Hengst auf Dauerpirsch nach Frischfleisch

Mann und Frau, fahrig vor Erwartung, gierig aufeinander – und doch folgt nur der Totentanz des Eros. Das Begehren ist längst nicht mehr das Böse, die Sünde, die Begegnung mit zerstörerischen Kräften. Ewig produziert das Kraftwerk des Lebens unsere Triebenergie, ewig müssen wir an ihrer Abfuhr arbeiten: Körperhygiene. Die Kunst der Verführung, ach, das ist Kitsch von vorgestern, ein bisschen reden, lügen, schmeicheln – schließlich hastige Vollzüge. Dann Flucht vor der post coitum eruptierenden Leere, Einsamkeit.

Solche Houellebecq’sche Elementarteilche-Tristesse möchte Regisseur Christian von Götz im Bremer Musicaltheater auf die Bühne bringen und wählt dafür eine seit über 100 Jahren aktuelle Vorlage: Arthur Schnitzlers Beischlaf-„Reigen“. Mit sprachlicher Banalisierung, Zuspitzung und Bitterkeit überträgt er das Stück in unser Jahrhundert, macht aus Schäferstündchen peinvolle One-Night-Stands, aus süßen Mädels nervige Plapper-Girlies.

Mit Schauspielleistungen auf meist durchschnittlichem Stadttheaterniveau entsteht so eine zeitgenössische „Reigen“-Aufführung. Nicht mehr, nicht weniger. Aber von Götz nennt die Uraufführung seiner Text-Fassung „Nackt!“ und wirbt mit Beinespreiz-Nackedei-Erotik. Eine fehlgeleitete Marketingidee. Denn nun erwartet das Publikum natürlich einen Skandal, bekommt aber nur kurzzeitig weibliche Brüste und schrumpelige Männerschwänze, etwas Lustschmerzgeschrei sowie Sexgestöhne geboten – und ist gelangweilt. Provokation fehlt.

Von Götz ignoriert den Schnitzler’schen Gedankenstrich am Ende jedes Dialogs und sucht nach szenischer Stilisierung der ästhetisch wohl lächerlichsten und ödesten aller menschlichen Tätigkeiten. Aber der Regisseur gestattet den Quickie-Geschichten seiner bindungslos verzweifelten Großstadtmenschen wenig Ambivalenz: Bei ihm sind die Männer schwadronierende Hengste auf der Dauerpirsch nach Frischfleisch, um später in schnellen Fluchtbewegungen ihre Beziehungsunfähigkeit auszustellen – während die Frauen auf warmherzige Partnerschaft hoffen.

Anno 2009 Männer als Sex-manische Schweine und Frauen als liebessehnsüchtige Opfer darzustellen, wirkt lächerlich. Die Mittel indes sind modern. Von Götz versucht Regietheater-Errungenschaften auf das Genre Musical anzuwenden, ohne beliebig zu werden. Auf der Bühne stehen daher nur wenige sperrmüllige Sitzgelegenheiten, Scheinwerfer, Mikrofone. Alle Darsteller sind stets anwesend, machen Geräusche, kommentieren – wie seit 30 Jahren auf deutschen Schauspielbühnen üblich.

Der Musicalfan kennt das nicht, will das nicht, ist enttäuscht. Auch wenn noch etwas musicalisiert wird. Denn nach Kopulation, Masturbation, Vergewaltigung werden die schmerzhaften Momente des Verlorenseins nicht ausgehalten – das E-Piano setzt ein, ein Darsteller muss zu pop-plärriger Rockmusik mit Schlager-Lyrik von seinen Träumen singen. Davon wiederum ist der Regietheaterfan enttäuscht. JENS FISCHER

bis 27. 11., Musicaltheater Bremen