Sozialstaat – am Stück oder in Scheiben

Über Kopfpauschale und Bürgerversicherung, Spitzensteuersätze, Kündigungsschutz und mehr Arbeitsplätze: Die SozialpolitikerInnen Antje Blumenthal (CDU) und Olaf Scholz (SPD) im taz-Streitgespräch zur Bundestagswahl

„Sie sind doch so sozial, dass Sie nach wie vor die Arbeitnehmer alles bezahlen lassen“: Antje Blumenthal„Unsere Reformen sind die Basis dafür, dass die soziale Gerechtigkeit gewährleistet ist und der Sozialstaat funktioniert“: Olaf Scholz

Moderation:Sven-Michael Veit

taz: Was ist für Sie, Herr Scholz, ein Sozialstaat?

Olaf Scholz: Ein Sozialstaat gewährleistet Sicherheit für Menschen, die darauf angewiesen sind, dass sie bei Alter, Krankheit, Behinderung oder Arbeitslosigkeit nicht allein gelassen werden. Er sorgt dafür, dass alle eine gerechte Chance haben auf Teilhabe, gerade bei Bildung und Arbeit.

Und für Sie, Frau Blumenthal?

Antje Blumenthal: Sozialstaat bedeutet für mich, dass die Starken für die Schwachen eintreten. Diese müssen aber auch nach ihren Möglichkeiten ihre Leistungen mit einbringen, und da ist ein gerechter Ausgleich sicher zu stellen.

Scholz: Dass die Stärkeren für die Schwächeren eintreten, wollen Sie nun gerade beenden. Die CDU bereitet zwar nicht die Abschaffung des Sozialstaates vor, aber den Teilausstieg ...

Blumenthal: Sie hören nicht richtig zu. Ich sagte nur, dass die Schwachen im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit auch etwas tun müssen ...

Scholz: Mit der Kopfpauschale, die Sie jetzt solidarische Gesundheitsprämie nennen, schaffen Sie eine wichtige Solidarleistung in der Krankenversicherung ab, nämlich, dass Gutverdienende mehr einzahlen als Geringverdiener. Außerdem will die Union viele Milliarden Euro in der Arbeitslosenversicherung einsparen und damit die Leistungen abschaffen, die den Menschen über Vermittlung in Arbeit und Auszahlung von Geld hinaus geboten werden.

Blumenthal: Wir sollten mal darüber reden, was wir als sozial gerecht empfinden. Bei der solidarischen Gesundheitsprämie sollen im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit alle denselben Beitrag zahlen, sieben Prozent ihres Einkommens. Diejenigen, die das nicht zahlen können, erhalten Zuschüsse aus dem Haushalt. Denn über den Steuerausgleich tragen alle ihren Teil dazu bei. Sie wollen viele Ausnahmen machen, zum Beispiel bei denen, die sich Wohnungen kaufen und mit den Mieteinnahmen ihre Alterssicherung sicherstellen. Die nehmen Sie ausdrücklich aus. Sie sind doch so sozial, dass Sie nach wie vor die Arbeitnehmer alles bezahlen lassen.

Scholz: Ihre Vorstellungen bedeuten, da gibt es ja unterschiedliche Entwürfe, dass jährlich 17 bis 20 Milliarden Euro oder sogar bis zu 30 Milliarden Euro aus Steuergeldern dazugeschossen werden müssen. Und gleichzeitig wollen Sie den Spitzensteuersatz senken. Das wird dazu führen, das ist meine Prognose, dass Sie im Umfang von 17 bis 30 Milliarden Euro Leistungen streichen müssen, weil sie das Geld dafür nicht haben werden. Das ist das Gegenteil von Solidarität.

Blumenthal: Tatsache ist, dass Rot-Grün sieben Jahre lang regiert hat, ohne das Richtige zu tun. Nach unserer Gesundheitsprämie zahlen alle den gleichen Beitrag, Sie aber halten mit ihrer Bürgerversicherung die Besserverdienenden heraus. Sie halten an Beitragsbemessungshöchstgrenzen fest, und das heißt, wer sehr viel verdient, wird von Ihnen nicht voll herangezogen zur Finanzierung des Gesundheitssystems.

Scholz: Ach, Frau Blumenthal, es gibt ja konservative Ökonomen, die die Kopfpauschale für gut halten. Die sagen aber gleichzeitig, dass für die entlasteten Besserverdienenden die Steuern erhöht werden müssen. Sie aber wollen ja gerade den Spitzensteuersatz senken. Und deshalb ist ihr Hinweis auf einen Ausgleich aus dem Steueraufkommen mit dem Begriff Milchmädchenrechnung noch höflich umschrieben. In Wahrheit ist es ein massiver Wahlbetrug, denn es kann einen Sozialausgleich aus dem Steuersystem nicht geben.

Blumenthal: Ich wünschte, Sie würden sich ernsthaft mit unserem Konzept auseinander setzen, Herr Scholz. Dann wüssten Sie nämlich, das wir nicht nur Steuern senken, sondern auch Steuerschlupflöcher schließen wollen. Denn wir wollen verhindern, dass Gutverdienende weiterhin alle möglichen ganz legalen Tricks nutzen können. Wenn wir es erreichen, dass alle ihren geringeren Steuersatz auch tatsächlich voll bezahlen, werden wir mehr Geld in der Kasse haben als jetzt.

Scholz: Sie wollen doch gar nicht die Spitzenverdiener zur Kasse bitten. Sie meinen doch vor allem den Abbau von Vergünstigungen für Arbeitnehmer, weil Sie die steuerfreien Zuschläge für Nachtschichten sowie Arbeit an Sonn- und Feiertagen besteuern wollen. Zwar wollen Sie inzwischen auch die Eigenheimzulage abschaffen, was Rot-Grün seit langem will und die Union bisher verhindert hat. Aber nur, um mit den Einsparungen die Senkung der Spitzensteuer gegenzufinanzieren. Das halte ich für sozial ungerecht.

Blumenthal: Sie werfen da zwei Dinge durcheinander. Schlupflöcher schließen ist das eine, bislang steuerfreie Zuschläge künftig zu besteuern, ist etwas ganz anderes. Diese werden nämlich bisher von den anderen Steuerzahlern subventioniert. Wir wollen das über einen Zeitraum von sechs Jahren zurückführen, das ist eine verlässliche Größe, auf die man sich einstellen kann, auch die Tarifpartner, die dann über einen Ausgleich neu verhandeln können.

Scholz: Um das auszugleichen, wäre eine Bruttolohnerhöhung von etwa 17 Prozent erforderlich. Das ist selbst über sechs Jahre nicht sehr realistisch.

Blumenthal: Sie sollten sich mal damit auseinander setzen, dass Sie nur die verteidigen, die in Lohn und Brot sind. Wir machen uns aber auch Gedanken darüber, wie wir Menschen vor Arbeitslosigkeit schützen und Arbeitslose wieder in Arbeit bringen. Sie wollen am Weiter-So festhalten, Zustimmung in der Bevölkerung ernten Sie damit nicht.

Schauen wir mal in die Zukunft: Wie wird die Arbeits- und Sozialpolitik einer rot-grünen Bundesregierung aussehen und wie die einer schwarz-gelben?

Scholz: Erstens: Kündigungsschutz, Betriebsverfassung und Mitbestimmung in Unternehmen bleiben, wie sie sind. Sie sind keine Wachstumshemmnisse, sondern stärken die Beschäftigung in Deutschland. Zweitens wird die Arbeitsvermittlung so organisiert, dass sie in der Praxis auch wirklich funktioniert. Das läuft ja erst seit Jahresbeginn, und es läuft noch nicht so, wie wir uns das vorstellten. Drittens wird es viel mehr Geld geben für Bildung und für Forschung, finanziert durch eine Erhöhung der Spitzensteuern und den Wegfall der Eigenheimzulage. Der Staat selbst schafft keine Arbeitsplätze, er muss für die Rahmenbedingungen sorgen, damit sie geschaffen werden können. Das werden wir tun.

Blumenthal: Wir werden die wichtigsten Punkte unseres Regierungsprogramms umsetzen. Die sind bekannt, ich habe sie vorhin auch schon genannt und will das nicht wiederholen. Das werden wir zusammen mit der FDP besprechen, aber wir sind uns da sehr nahe. Gemeinsam werden wir für mehr Arbeit und Wachstum sorgen, das hat Vorrang.

Mit dieser Politik, die Sie beide hier ausführlich debattieren, haben CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP gemeinsam sich einen neuen politischen Konkurrenten herangezüchtet, die Linkspartei. Wie wollen Sie mit der umgehen?

Blumenthal: Die Linkspartei und ihr Spitzenpersonal sind unglaubwürdig, unsozial und rückwärtsgewandt. Wer sich auf sie verlässt, ist schnell verlassen.

Scholz: Die Politik, die wir gemacht haben, war sicher nicht leicht, aber sie war richtig. Und die Einigkeit mit der Union ist bei weitem nicht so groß gewesen, wie Sie unterstellen. Unsere Reformen sind die Grundlage dafür, dass die soziale Gerechtigkeit weiterhin gewährleistet ist und der Sozialstaat weiter funktioniert. Die Linkspartei hat keine wirkliche und umsetzbare Alternative anzubieten.

Wenn aber weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün eine Mehrheit bekommt, gibt es eine Große Koalition?

Blumenthal: Nein.

Scholz: Nein. Das zeigt ja unser Gespräch hier, dass es zu große Differenzen gibt, als dass das funktionieren könnte ...

Blumenthal: Außerdem macht Rot-Grün eher eine Koalition mit der Linkspartei, bloß um an der Macht zu bleiben.

Scholz: Nein. Wir kämpfen für Rot-Grün und für Gerhard Schröder als Bundeskanzler.