Sei pünktlich, Liebe

Ein äußerst vergänglicher Liebhaber: Andrew Sean Greer und sein armer Held Max Tivoli haben sehr verschiedene Probleme mit der Zeit

VON JENNI ZYLKA

Huch, dieses Foto, sagt er. Das ist eine der Aufnahmen, auf denen ich gucke, als ob mir gerade irgendein Gott irgendetwas eingeben soll. Oder als ob ich herumsitze und sage: Küss mich, Muse! Andrew Sean Greer redet über ein Autorenfoto, das im Begleitkatalog zum Internationalen Literaturfestival abgedruckt ist, und fuchtelt zur Unterstützung ein wenig mit den Händen. Auf dem klitzekleinen Schwarzweißbild erkennt man einen hübschen dünnen Mann, der versonnen zum Himmel schaut.

In Wirklichkeit ist Andrew Sean Greer auch hübsch, dünn und guckt oft versonnen. Er hat helle Augen, helle, ins Rötliche gehende Haare, helle Wimpern und eine eindrucksvolle Nase. Greer ist wegen seines zweiten, enorm erfolgreichen Romans nach Berlin eingeladen worden: der Geschichte über einen Mann, der rückwärts altert. Max Tivoli wird äußerlich als Greis geboren, und verjüngt im Laufe seines Lebens, bis er schließlich als kleiner Junge Selbstmord begeht, damit er nicht als sprach- und körperbeherrschungsloser Säugling stirbt. Max Tivoli lebt im San Francisco des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, er spricht in der leidenschaftlichen Sprache Humbert Humberts, des pädophilen Liebhabers von Nabokovs Lolita, und er hat ebenfalls die Liebe seines Lebens gefunden: Alice, die er trifft, als er außen 53 und innen 17 ist, die er lieben darf, als er um die 30 ist, und die er verlässt, bevor sie einen Sohn von ihm bekommt. Andrew Sean Greer ist 35 und lebt seit einigen Jahren auch in San Francisco.

Die begeisterten Huldigungen an seinen neuen Roman, an die voluminöse, leidenschaftliche Sprache voller 19.-Jahrhundert- Kapriolen und bitterer, hoffnungsloser Gefühle tut er mit einem Kichern und einem Kopfschütteln ab: Ich habe gedacht, das liest doch kein Mensch, das ist viel zu viel und viel zu doll. Außerdem ist es doch ein totaler Lolita-Rip-Off. „Bleeding on the page“ nannte er das am Donnerstagabend nach seiner ersten Lesung in Berlin und erklärte dem begeisterten Publikum, dass er Lust auf die Recherche und diese Mischung aus Sciencefiction und Philosophie gehabt habe. Und wegen seines Interesses an der Zeit und am Vergänglichen sei das Buch entstanden.

Am nächsten Tag redet er wieder über Zeit. Greers Freund, der mit ihm nach Deutschland gefahren ist und ihn „Andy“ nennt, heißt David, die beiden sind seit zehn Jahren zusammen, und Greer erklärt sein Interesse an dem verliebten, einsamen Tivoli-Charakter damit, dass er selber eben ganz anders sei: So eine starke, bedingungslose, unerfüllte Liebe kenne er in der Form gar nicht – er kenne eigentlich nur gemütliches, harmonisches Eheleben. Es gibt wirklich wenig Streit zwischen uns, tuschelt er am Morgen, als er sich beim Senatsempfang der Autoren im Roten Rathaus vor einer langweiligen Rede drückt, und wenn, dann wegen unserer unterschiedlichen Auffassung von Zeit: Ich bin immer pünktlich und David ist immer unpünktlich. Und ich kann Unpünktlichkeit eigentlich nicht leiden. Er zeigt auf eine moderne braune Armbanduhr. Die habe ich mir gerade hier gekauft, sagt er, ich trage selten Armbanduhren, weil ich dann noch besessener mit Zeitplänen werde.

David kommt diesmal im richtigen Augenblick und bringt fürsorglich ein Glas Wasser mit, falls Andy durstig wird. David ist etwas kleiner als Greer, hat die braunen Haare zurückgegelt, lächelt freundlich mit Zähnen, weiß wie eine Badezimmerporzellanfliese, und arbeitet als Softwarespezialist. Was denkst du, ich bin froh, dass mein Freund einen Job hat, sagt Greer, bis vor kurzem hab ich durch das Schreiben noch kaum etwas verdient. Vor dem Öffentlichkeitsmarathon – drei Lesungen, diverse Empfänge, Essen und Gesellschaften – haben die beiden das Wochenende bei Freunden in Prenzlauer Berg verbracht, sind ausgegangen, haben gut gegessen und viel geredet. Nach dem Senatsempfang am Freitag wollen sie zur Museumsinsel. Oder vielleicht nach Marzahn – die Plattenbauten angucken, sagt Greer.

Er erzählt von seiner Familie, von seinem Zwillingsbruder, der auch gerade angefangen hat zu schreiben, aber noch nichts veröffentlicht hat, der erstaunlicherweise nicht schwul sei, aber seine Mutter sei lesbisch, ein spätes Coming-out.

Der schwule Mann in Greers Roman, Hughie, dessen tiefe Freundschaft/Liebe von Tivoli für selbstverständlich genommen, dessen Leid von ihm nicht erkannt und dessen Loyalität fast ausgenutzt wird, ist der zweitwichtigste Charakter im Buch, und mindestens genauso tragisch wie Tivoli selbst. Am Schluss der Geschichte nimmt Hughie sich das Leben, nicht zuletzt, um Tivoli Zeit mit seiner Mutter und seinem Sohn zu schenken. Greer erzählte nach seiner Lesung dem Publikum, dass er erst nach zwei Dritteln des Romans gemerkt habe, wie stark Hughie sei, und dass er den ursprünglich geplanten Schluss, bei dem ein Mörder Tivoli hinstreckt, gar nicht brauche – Hughie ist ja da.

Die Beiläufigkeit, mit der Greer die unerfüllte Liebe des Hughie inszeniert, sie unter den Tisch kehrt, denn da mussten solche Lieben in jener Zeit verdursten, zieht sich wunderschön und tieftraurig durch das Buch. Irgendwo stand, dass Greer die Idee zu dieser Geschichte in einem Bob-Dylan-Song gefunden habe: „I was so much older then / I’m younger than that now“ singt Dylan in „My back pages“. Greer, der schlaksig und blond und mit einem Mineralwasser in der Hand die meisten anderen Autoren im Rathaus überragt, hat mit diesem kleinen Textstück aus der normalerweise vergänglichen Populärkultur das Schönste gemacht, was man machen kann: Er hat ihm eine zeitlose Liebesgeschichte gewidmet.