die taz vor drei jahren: stoibers blick auf die frauen
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Schon klar: Auch unter einem Kanzler Stoiber werden nicht alle schönen Errungenschaften an gesellschaftlicher Liberalisierung, die wir inzwischen erreicht haben, wieder zurückgedreht werden. Frauen, die sich ergeben in ihre Hausfrauenrolle schicken, wird man kaum mehr finden. Aber es geht hier um Fragen des gesellschaftlichen Selbstverständnisses. Es wird Zeit, zu begreifen, dass die Veränderungen im Sozialen, die die Bundesrepublik seit der Epoche der Nierentische durchlaufen hat, nicht als Verfallsgeschichte, sondern als Erfolgsgeschichte zu verstehen ist.

Auch viele Rot-Grün-Anhänger kriegen diesen sozialpädagogischen Betroffenheitsblick, wenn die Rede auf die erhöhten Scheidungsraten kommt. Dabei könnten sie darauf verweisen, dass die Scheidungsrate in den Fünfzigern nur aufgrund eines gewaltigen repressiven Normdrucks künstlich niedrig war und dass viele der Scheidungen eher für eine erhöhte Wertschätzung der Ehe sprechen: Man hat dann eben nicht so harmoniert, wie man es für dieser Lebensform angemessen hält. Erst seit einer Generation können in der Ehe Individuen ohne Einbindung in vorgegebene Rollenmodelle aufeinander treffen. Man braucht die Entwicklung nicht zu verklären. Aber wo vor kurzem noch Verschmelzungsfantasien alle realen Probleme zukleisterten, haben heutige Ehepartner die Chance, die in einer langjährigen Beziehungen entstehenden Probleme auch tatsächlich auszuagieren und, wenn nichts mehr hilft, die Konsequenzen zu ziehen. Das alles ist kompliziert und anstrengend genug.

Edmund Stoiber aber passt die ganze emanzipative Richtung nicht. Und es komme jetzt bitte niemand mit Katherina Reiche! Ohne Trauschein Kinder zu bekommen mag innerhalb gewisser katholischer Milieus immer noch als Skandal oder emanzipativer Akt gehandelt werden. In Wirklichkeit aber sollte es mittlerweile doch nur noch eins sein: vollkommen normal.

Dirk Knipphals, 12. 9. 2002