Alles egal, aber …

Merkel wird Kanzlerin, die Union stärkste Partei – obwohl die Wähler Schröder und die SPD mehr schätzen. Dafür gibt es rationale Gründe – und doch ist es ein böser Irrtum

Die Deutschen verhalten sich als Wähler mürrisch undunberechenbar – als Bürger keineswegs

Allen Durchhalteparolen und jüngsten Umfragegewinnen der SPD zum Trotz ist klar, dass Rot-Grün die Wahl verlieren wird. Angela Merkel, so viel scheint sicher, wird Kanzlerin. Aber dass dies so ist, versteht sich nicht von selbst.

Denn Meinungsumfragen fördern erstaunlich konstant dreierlei zu Tage. Die SPD hat mit Schröder den Kanzlerkandidaten, der als populärer und kompetenter gilt als Angela Merkel. Mehr als zwei Drittel glauben überdies nicht, dass die Union die wirtschaftliche Lage verbessern wird. Und zwei Drittel sympathisieren mit den Grundzügen des SPD-Programms – und nicht mit dem der Union. Warum also verliert die SPD die Wahl trotz des beliebteren Kanzlers, des einleuchtenderen Programms und einer soliden Skepsis gegenüber der Union?

Offenbar wählen die Leute gegen ihre eigenen Interessen. Dieser Befund und das Händeringen darüber ist ein Grundmuster in der Welterklärung der Linken. Falsches Bewusstsein wird diagnostiziert – und meist Manipulation als Ursache genannt. Es gibt zwar eine in der Geschichte der Republik einmalige mediale Einheitsfront für Merkel, von Bild über FAZ bis zu Stern und Spiegel. Aber man sollte mediale Macht nicht über- und den Eigensinn der Wähler nicht unterschätzen: Einreden kann man den Wählern Nur, was sie ohnehin schon zu glauben beginnen. Und die Manipulationsthese erklärt nicht, warum die Wähler für Merkel votieren, ohne an sie zu glauben.

Warum also wählen die Deutschen die SPD ab? Die US-Intellektuelle Susan Neiman hat dafür die notorisch schlechte Laune der Deutschen verantwortlich gemacht, ihre Lust am Untergang. Jede Änderung wird als Bedrohung empfunden: Fünf Millionen Arbeitslose erscheinen nicht als ein kompliziertes Problem, sondern als Menetekel, dass Wohlstand und Demokratie nur ein kurzer Traum waren. Der Affekt gegen Rot-Grün ist so gesehen Ausdruck einer Fixierung auf das Scheitern, die blind für alles macht, was doch prima läuft.

Für diese Erklärung spricht scheinbar einiges. Ausgerechnet in Deutschland, jener Ökonomie, die global am meisten exportiert, ist „die Globalisierung“ zur Angstmetapher geworden. In keinem anderen westlichen Land wird das demografische Problem in so apokalyptischer Weise verhandelt wie in Deutschland. Allerdings wirkt dieses Erklärungsmuster ziemlich routiniert – und in der Konsequenz ist es falsch.

Der Befund, dass die Deutschen zum Schwarzmalen und zu Zerknirschtheit neigen, ist nicht neu. Aber das schwarze Gemüt der Deutschen, von den Nibelungen über die deutsche Romantik bis zu Heidegger, führt nicht umstandslos zu Angela Merkels Kanzlerschaft. Vor allem wird so ins Irrationale verwiesen, wo nach rationalen Gründen geforscht werden muss.

Es ist anders, nicht weniger beunruhigend, aber erklärbarer. Und es geht nicht um Hysterie, sondern um Politik. Ein wesentlicher Grund für die Verzagtheit im rot-grünen Lager ist Gerhard Schröder. Auch wenn er bei den Wählern beliebter ist als Merkel, als professioneller und vertrauenswürdiger gilt, hat die SPD seinetwegen ein Dutzend Landtagswahlen verloren.

Kein Kanzler, auch Helmut Schmidt nicht, hat die SPD so nachhaltig deprimiert wie er. Seit 1998 hat die Partei ein Viertel ihrer Mitglieder verloren. Die Agenda 2010 haben viele als kalten Putsch von oben wahrgenommen, als Bruch mit der traditionellen Rolle der Partei als Anwalt der kleinen Leute. Schröder hat die sozialdemokratische Klientel auf diesen Reißschwenk weder vorbereitet noch viel Mühe darauf verwandt, ihn zu erklären. Unten zu kürzen, oben Steuern zu streichen, dazu gebe es, so das Mantra, keine Alternative. Folgerichtig hat die SPD bei den letzten Wahlen durchweg bei Arbeitern und Arbeitslosen verloren. Schröder hat einfach wortlos das Selbstverständnis der SPD über Bord geworfen – am 18. September wird die SPD dafür die Quittung bekommen.

Schröder Wurschtigkeit hat einen Trend verstärkt, aber er ist nicht dessen Ursache. Dieser Trend ist nicht neu, er hat sich langsam, aber stetig verfestigt. Die Bürger trauen der Politik nicht mehr. 1995 hat sich die Hälfte der Wähler als politisch interessiert bezeichnet, 2005 tun dies nur noch 25 Prozent.

Interessanterweise gilt dieser Befund nur für die offizielle Politik. Die Deutschen verhalten sich als Wähler unberechenbar und mürrisch – als Bürger keineswegs. Als Bürger bringen sie konstant ein beachtliches zivilgesellschaftliches Engagement hervor – von sozialen Bewegungen über Flüchtlingsinitiativen bis zum ehrenamtlichen Fußballtrainer. Von einer Entpolitisierung der Gesellschaft kann also keine Rede sein, eher von einer Entpolitisierung der Politik.

Es spricht viel dafür, dass die Deutschen Merkel zur Kanzlerin wählen werden, weil es ihnen egal erscheint, wer regiert, nach der Logik: „Wenn es die einen nicht können, wählt man halt die anderen.“ Das ist eine unernste, unpolitische Logik. Noch nie gab es vor einer Wahl so viele Unentschiedene. Auch das spricht dafür, dass viele wählen, aber es auf eine wahllose, zufällige Art und Weise tun. Schröder, der sich selbst mit seinem Neuwahl-Coup trotzig als tragisch Gescheiterten inszeniert hat, der sich noch einen guten Abgang gönnt, hat diese Haltung befördert.

Man sollte mediale Macht nicht über- und den Eigensinn der Wähler nicht unterschätzen

Die neue Launenhaftigkeit der Wähler hat etwas Beängstigendes – aber sie ist eben nicht irrational. Sie ist vielmehr ein Echo der Parteipolitik. Wenn Politik alternativlos ist, so wie die Schröder-SPD jahrelang weisgemacht hat, dann ist der Schluss nahe liegend, es komme nicht mehr darauf an, wer regiert. Und wenn die nationale Politik gegen die Macht des globalen Kapitals ohnehin nicht mehr viel ausrichten kann, ist es dann noch wichtig, wer regiert?

So wird die Union die Wahl gewinnen – aber es wird ein fragiler Sieg. Die Wähler sind wankelmütiger, ungeduldiger als früher – und wenn mit Merkel und Schwarz-Gelb die Wirtschaft auch nicht besser läuft, dann ist viel möglich. Nicht nur ein Hagel verlorener Landtagswahlen für die CDU, sondern sogar eine Implosion des bisher so unerschütterlichen deutschen Parteiensystems.

Am Sonntag werden viele die vage Hoffnung wählen, dass Merkel es irgendwie besser machen wird, ohne selbst davon überzeugt zu sein. So wird Merkel gewählt, ohne gewollt zu sein. Das ist ein gefährlicher Irrtum. Denn mit Merkel wird die Republik erstmals von einer Radikalen regiert, die, zumindest wenn Schwarz-Gelb siegt, versuchen wird, das deutsche Konsensmodell zu sprengen. Kopfpauschale und Kirchhofs Steuermodell weisen krass die Richtung – es ist nicht ohne Ironie, dass die Linke, die dies Kohl und Co jahrelang fälschlicherweise vorgeworfen hat, Merkel lange nicht ernst genommen hat.

Dabei geht es diesmal wirklich um etwas, um mehr als 2002. Doch das Wahlvolk scheint dies, dramatisch enttäuscht von der Parteipolitik, erst sehr spät und diffus zu sehen. Das kann die tragische Pointe dieser Wahl werden. STEFAN REINECKE