Annäherung an einen Ort

ARCHÄOLOGIE Im Eichenpark in Langenhagen gab es im 19. Jahrhundert eine „Heil- und Pflegeanstalt für geistesschwache und blödsinnige Kinder“. Die Künstlerin Silke Schatz hat die Anlage durchkämmt

Eine gestörte räumliche Tiefe spielt auf die ehemalige Undurchdringlichkeit der alten Nutzung an

„Eichenpark“ ist der Name einer ausgedehnten öffentlichen Grünanlage nördlich der Innenstadt von Langenhagen bei Hannover. Die Volkshochschule liegt hier eingebettet, das Stadtarchiv am Rande. Geht man durch diesen Park, stößt man auf weitere Gebäude, deren Existenz an diesem Ort nicht sofort einleuchtet: ein Festsaalbau, eine Kapelle, ein Wasserturm. Sie alle deuten darauf hin, dass sich hier eine autarke Einrichtung befunden haben muss.

In der Tat handelt es sich beim Eichenpark um das Gelände der ehemaligen „Heil- und Pflegeanstalt für geistesschwache und blödsinnige Kinder“, die hier 1862 gegründet wurde und mit modernen Ergänzungsbauten heute als „Nervenklinik Hannover“ betrieben wird.

Bis in die 1980er Jahre war das Gelände eingezäunt und nicht öffentlich zugänglich, somit tabuisiert. Seitdem ist es Dank moderner Therapiekonzepte geöffnet, gibt aber in seinem historischen Baubestand Rätsel auf – ein idealer Ort somit für die Künstlerin Silke Schatz, die ihre Arbeitsweise als eine Form erfinderischer Archäologie versteht.

Schatz, 1967 in Celle geboren, wuchs in Hannover auf und studierte an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Mittlerweile lebt sie in Köln. In ihren Arbeiten hat sich Schatz mit dem Konzentrationslager Theresienstadt auseinandergesetzt oder mit den verschwiegenen Anteilen der Familiengeschichte während der Nazizeit.

Für ihre Ausstellung im Kunstverein Langenhagen hat Schatz den Eichenpark rund um die ehemalige Heil- und Pflegeanstalt durchkämmt und Vorgefundenes zu Metaphern transformiert. Vor allem Pflanzen deutet sie aus, wie beispielsweise die Distel, die vielfältig besetzt ist. Sie gilt als robustes Symbol männlicher Potenz, ein Grund, warum auch die christliche Kirche die Distel schätzte: In der Tafelmalerei meist in die Nähe Mariens und oder Jesu Christi gesetzt, wurde auf ihren sehr raffinierten Aussaatmechanismus Bezug genommen, der eine effektive Ausbreitung sicherstellt – das damalige Ziel christlichen Bekenntnisses.

Silke Schatz fertigte ebenfalls Tafelbilder, allerdings in vollkommen unmalerischer Manier. In Schablonentechnik collagierte sie Motive aus dem Eichenpark auf Sperrholzplatten einheitlicher Größe, Fotografien dienten ihr als Grundlage. Der meist monochrome, flächige Auftrag der farbigen Schichtungen erzeugt eine gestörte räumliche Tiefe, die auf die ehemalige Undurchdringlichkeit und die verdeckten Spuren der alten Nutzung anspielt.

Für Schatz sind Distel oder Brennnessel auch Hinweis auf einen aktuell nicht wahrgenommenen Ort. Sie platziert in ihren Bildern die Pflanzen beispielsweise neben eine offensichtlich schon lange verwaiste Parkbank. Die Bildfolge des Eichenparks ist im Kunstverein auf illusionistisch gemaltem Quadermauerwerk zu sehen – nochmals ein Rückverweis auf einen versperrten Ort.

Schatz verfolgt in Langenhagen aber auch ihre großen architekturbezogenen Arbeiten weiter. Die Kapelle im Eichenpark stellt sie mittels einer nächtlichen Beleuchtung als autonome Skulptur frei. So gibt sie der unsichtbaren Vergangenheit eine sichtbare Gegenwart, überlagert die latenten Informationen des Ortes mit einem kühlen, technisch gestützten Argument.

BETTINA MARIA BROSOWSKY

Am heutigen Freitag, 18 Uhr, wird im Kunstverein Langenhagen eine Monografie über Silke Schatz vorgestellt, die Künstlerin ist anwesend. Die Ausstellung über den Eichenpark läuft bis 11. November