ZEIT.ORTE

Ohne mich könnt ihr es schaffen

Uli Hannemann, geboren 1965 in Braunschweig, lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin. Er ist Mitglied der Lesebühne LSD – Liebe statt Drogen und gehörte von 2004 bis 2015 der Reformbühne Heim & Welt an. Seine jüngste Neuerscheinung ist die Geschichtensammlung „Wunschnachbar Traumfrau“ (Voland & Quist, 2017), in der auch viele zuvor in der taz erschienene Texte ihren Platz gefunden haben.

Uli Hannemann

Jetzt liege ich schon wieder in so einer MRT-Röhre. Ich halte die Augen geschlossen. Um mich herum brummt es und tief in meinem Kopf brummt und tuckert, nagelt und röhrt es ebenfalls. Ich denke nämlich nach. Das hört sich für mich von innen heraus immer wie ein kleiner Dieselgenerator an, der da angesprungen ist, um die vom Gehirn für diese Sonderleistung benötigte Zusatzenergie bereitzustellen. Außenstehende bekommen das Tuckern natürlich nicht mit. Da sind ja die dicken Schädelknochen dazwischen, das Gesicht, der Bart – das dämpft alles. Logisch. Sonst müsste ich das hier nicht erklären.

Ich denke an die Damen von der Innungskrankenkasse, mit denen ich sonst so nett telefoniere. Wie enttäuscht die von mir sein müssen, wie sehr sie mich mittlerweile ganz gewiss auch hassen. Denn der Orthopäde hat mich wegen eines harmlosen Grundverdachts hierhergeschickt. Nur eine Muskelgeschichte, eine triviale Sportverletzung. Dafür ein MRT finde ich ja selbst ein bisschen übertrieben, aber ich habe nicht widersprochen und nun bin ich hier und habe ein schlechtes Gewissen gegenüber der Gemeinschaft der Krankenversicherten.

Wahrscheinlich würde der Muskel auch irgendwann von selbst heilen. Ich muss mich gar nicht immer unbedingt bewegen. Das ist doch Luxus. Schließlich arbeite ich am Schreibtisch. Außerdem kann ich wegen eines Knochenbruchs gerade ohnehin keinen Sport treiben. Meine Güte, was auch das wieder gekostet hat: Röntgen, Schiene, Krücken, Thrombosespritzen. Und dann bin ich auch noch ständig beim Zahnarzt. Ich habe bestimmt nicht gut genug geputzt. Für meine Faulheit gehen nun die knappen Ressourcen unseres Volkes drauf, die eigentlich nur für die Reichen reichen.

Kein Wunder, dass zur selben Zeit im Keller des Wolkenkratzers der Innungskrankenkasse Berlin und Brandenburg die Zuständige für die Buchstaben Ha–He verzweifelt vor der Liste mit meinen Ausgaben sitzt. Sie weint. Eigentlich hätte sie längst Feierabend. Das Budget reicht doch vorne und hinten nicht. Und nun schon wieder ein MRT, dieses schweineteure Diagnostikinstrument! In dem Alter sollte ein Patient einfach keine verletzungsintensiven Sportarten mehr betreiben dürfen. Das ist so asozial. Soll er sich doch einen Ast als Gehhilfe schnitzen. Und statt der Zähne genügt im Grunde so ein Plastikgebiss wie für Kinder, die im Fasching als Dracula gehen. Die IKK-Mitarbeiterin wägt trotz der späten Stunde sorgfältig ab. Doch sie kommt immer wieder zu demselben Schluss: Es wäre für alle einfach besser, wenn ich stürbe. Sorry, ja, aber so ist es eben.

Bestimmt bedauert die Frau ihr Fazit, oder besser: dessen ihr von einem ungerechten System aufgezwungene Notwendigkeit, doch es sind nun mal nicht mehr genügend Mittel für alle da. Die Decke ist zu kurz: Ziehst du oben, gucken unten die Füße raus. Und die Hauptleidtragenden sind immer die Kinder. Während sich so ein feister Saftsack mit seinem lachhaften Zipperlein in der warmen Röhre aalt, als läge er gratis im Solarium, muss ein ernstlich krankes Kind länger auf die raren Termine warten. Vielleicht wird es dann zu spät sein.

Zu wissen, dass einem jemand so richtig von ganzem Herzen den Tod wünscht, ist einerseits ernüchternd. Das kenne ich sonst nur von Lesern. Doch andererseits kann ich sie nur allzu gut verstehen. Die müssen so denken, tapfere harte Soldatinnen unseres Gesundheitswesens. Sie tun nur ihr Bestes – das ist schließlich ihr Beruf. Und ich habe in meinem Leben genug Jobs gemacht, um Empathie für berufsbedingte Befindlichkeiten aller Art aufzubringen.

So bin ich zu Taxifahrern immer freundlich. Ich behandle sie wie rohe Eier und beschwere mich nie über Umwege. Nur, wenn ich ihnen auf dem Fahrrad begegne, wage ich anlässlich ihrer gezielten Mordversuche manchmal schüchterne Widerworte. Doch selbst in denen schwingt noch Sympathie und Mitgefühl mit. Die Fahrer warten schließlich oft sehr lange an den Halteplätzen. Das führt zu Frustration und Langeweile. Die einzige Zerstreuung liegt dann eben darin, direkt vor einem Radfahrer die Tür aufzureißen, oder unvermittelt und ohne Blinker aus der Kolonne zu scheren, den Radler in die Straßenbahnschienen zu schneiden und ihn noch frech anzubrüllen, falls er dabei nicht gefälligst stirbt.

Auch die DHL-Boten können sich meiner vollen Solidarität gewiss sein, trotz ihrer die Grenzen zur Sabotage weit überschreitenden Praktiken: Ohne Benachrichtigung landet das Paket bei irgendeinem Hundefriseur am anderen Ende der Stadt, wenn man es sich nicht gleich aus dem Hausmüll im Hof pulen darf. Aber sie haben es auch nicht leicht. Das System ist schuld. Personalknappheit, stressinduzierte Fehlzeiten, Ausbeutung, Orientierungslosigkeit, Wahnsinn. Im Grunde ist es ein Wunder, dass überhaupt noch irgendwas ankommt.

Auch mein Langmut gegenüber Bedienungen in Bars und Cafés ist groß. Ich brauche mir nur vorzustellen, ich wäre selbst schon wieder beim Casting durchgerauscht, weil irgendeine talentlose Schnepfe die Regieassistentin vom Yogakurs kennt, mein Kopf schmerzte, ich hätte obendrein noch heftig meine Tage und dann fragten mich irgendwelche dahergelaufenen Kretins mit Zahnpasta am Kinn, welche Säfte es gibt. Welche Säfte!? DAS STEHT DOCH IN DER GOTTVERDAMMTEN FUCKING SCHEISSKARTE, DU NULL! Ja, da haben Sie natürlich recht. Entschuldigung. War dumm von mir. Ich sollte dringend an mir arbeiten, damit ich in Zukunft bewusster und aufmerksamer durchs Leben gehe.

Und auch die Frau, die mich hier in die Röhre schiebt, ist rasend pampig. Dennoch lasse ich ihre Aggressionen von meinem Gemüt abperlen wie Tautropfen und antworte mit sachlicher Sanftmut, gerade so, als bekäme ich ihr Feuerwerk der Unverschämtheiten überhaupt nicht mit. Denn es ist jetzt schon fünf Uhr nachmittags, draußen ist es dunkel, drinnen nur menschenfeindliches Kunstlicht und sie schiebt den ganzen Tag irgendwelche von Weichei-Orthopäden mit Weichei-Diagnosen überflüssigerweise hierher­überwiesene Weicheier in die Röhre. Wegen nichts. An diesem Punkt mag sich das Motiv ihrer Pampigkeit sogar mit dem der Krankenkassenleute überschneiden. Was das kostet. Und wie langweilig das ist: rein, raus. Rein, raus. Raus, nee, rein – also rein, raus. Erst rein, dann raus, anders geht das nicht, sonst sind am Ende zwei drin oder keiner, ein absolutes No-Go: Das lernst du als MRT-Assistentin bei der Ausbildung natürlich fast als Allererstes.

Bestimmt furzt der Arsch während der Sitzung auch noch ganz gemütlich vor sich hin, denkt sie besorgt. Dann muss man das Gerät wieder hochdruckreinigen und anschließend tagelang auslüften. Und sie kann die Termine von vierzig kranken Kindern absagen. Das geht doch alles nicht. Unsere Gesellschaft ist doch völlig kaputt.