Jedermanns Junge

Nach vier Jahren politischer Abstinenz will der einstige Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen wieder was werden. Sein Direktmandat für den Bundestag, um das er in Neukölln kämpft, sei ihm bisher sicher, sagen Demoskopen. Warum eigentlich?

von WALTRAUD SCHWAB

Gäbe es eine Gala der Hände, gehörten jene von Eberhard Diepgen zu den Stars, denn sie sind schön. Groß und wohlgeformt, kräftig und dennoch gepflegt. Lange Finger, deren Nägel gleichmäßig in Form gefeilt sind. Keinerlei Kauspuren, die Halbmonde stattdessen gut sichtbar. Würden Politiker nach der Form ihrer Hände gewählt – Diepgens Chancen stünden gut.

So richtig hat die Berliner Politgröße, die vor vier Jahren sang- und klanglos von der Bühne verschwand und nun in den Bundestag will, ihre körperlichen Vorteile noch nicht begriffen. Reagiert der Kandidat doch ertappt, als ihn auf einer seiner Wahlkampftouren von allen Fragen der Welt ausgerechnet diese trifft: Sind Sie handwerklich begabt? Als Antwort streckt er die Hände aus. Die Linke zeigt nach unten, die Rechte nach oben. Soll heißen: Ich bin mit zwei linken Händen gesegnet. Die Anspielung wird nicht verstanden, er muss sie erklären. Da wird es banal.

Diepgen ist nicht irgendwer. Von 1984 bis 1989 war er zum ersten Mal Regierender Bürgermeister. 1991, nach der Maueröffnung, wurde er es zum zweiten Mal und blieb zehn Jahre im Amt. Am Ende war Berlin ruiniert. Das Schlagwort: „Bankenskandal“. Er hat Diepgen zu Fall gebracht.

Jetzt, vier Jahre später, sucht der fast 64-Jährige ein Comeback. Ein Direktmandat soll er holen in Neukölln. Das ist altes Pflaster für ihn. Auch früher kandidierte er hier. Er kenne den Bezirk aus dem Effeff, sagt er. In Rixdorf hat er mal mit Uwe Seeler Fußball gespielt. Wenn das nichts heißt, was denn dann?

Überall in Neukölln, wo ein großer Teil der Bevölkerung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld lebt, sind die Straßen mit dem Konterfei des Kandidaten verziert: Sein breiter Mund, seine blauen Augen sollen Vertrauen erwecken. „Mensch Diepgen“ steht auf dem Plakat. Und: „Zuhören Nachdenken Handeln.“

Diepgen ist ein Profi. Dass ihm die Rolle des Weddinger Jungen aus armen Verhältnissen anhängt, damit kokettiert er. Dass ihm die Rolle eines Corps-Studenten in einer schlagenden Verbindung zufiel, damit ziert er sich nicht. In den Part des Regierenden Bürgermeisters fügte er sich ebenfalls gern. Jetzt haben ihm die Wahlkampfstrategen die Rolle des Menschen zugedacht. Das käme ihm entgegen, denn das dem Menschen Zugewandte entspreche seinem Naturell, meint er. Es begrenze die Schüchternheit.

Natürlich wendet sich der Kandidat am liebsten denen zu, die ihm wohlmeinen. Die Senioren und Seniorinnen, die sich auf Einladung der CDU zu Kaffee und Kuchen im Restaurant der Trabrennbahn Mariendorf einfinden, gehören dazu. Bei ihnen hat Diepgen einen Auftritt zum Warmlaufen, bevor er in die Niederungen Neuköllns absteigen muss.

Sehnsüchtige Senioren

Die Veranstaltung über der verwaisten Pferde-Arena geht ans Herz. Diepgen, ganz Star, hat sich verspätet. Mit Engelsgeduld warten die alten Herrschaften auf ihren Jungen, der kaum jünger ist als sie, und lassen sich derweil von dem zu smart geratenen Nicolas Zimmer, Fraktionsvorsitzender der Berliner CDU, und dem steifen Bundestagsabgeordneten Peter Rzepka die Zeit versüßen. Deren Botschaften: dass sie sich für den Erhalt des Flughafens Tempelhof einsetzen werden; dass Eberhard Diepgen große Verdienste für die Stadt erbracht habe; dass Rot-Grün abgewirtschaftet habe, am Ende sei, versagt habe. Weitere Worte aus dem Lexikon des Scheiterns: durchfallen, es nicht können, „fertig haben“. Brav wird der zweiten Garnitur applaudiert.

„Sie haben jetzt die Möglichkeit, Fragen zu stellen“, ruft Rzepka in die Runde, um die Zeit zu überbrücken. Eine Frau steht auf: „Ich verreise übermorgen und komme erst Mitte September wieder zurück. Wie gelange ich an den Wahlzettel?“ So auf die Folter gespannt, bekommt Diepgen von den SeniorInnen Standingovations, bevor er überhaupt den Mund aufmacht.

Im Gegensatz zu seinen Vorrednern wirkt er dynamisch. Er wippt in den Knien, wenn er was sagt. „Man darf in Deutschland nicht nur an Steuern und Wirtschaft denken, sondern auch daran, was für eine Gesellschaft wir wollen“, ruft er ins Mikrofon. Die SeniorInnen nicken. „Glaube, Wertorientierung“ sind seine Stichwörter. Die Menschen mit Lebenserfahrung verstehen sie. „Meine Großmutter hat immer gesagt: ‚Das tut man nicht.‘ “ Er, Diepgen, wolle wieder so eine „Das tut man nicht“-Gesellschaft. „Schwarzarbeit, Schmarotzertum – das tut man nicht.“ Seine Zuhörerinnen und Zuhörer sind begeistert.

Nach der Rede bedankt er sich, geht zu den Leuten an die Tische, schüttelt Hände, macht einen auf Mensch, auf Kumpel, auf Zuhörer, während der DJ endlich Walzer und Foxtrott auflegen darf. Darauf mussten einige schon viel zu lange warten. Im Publikum sind tanzwütige 80-Jährige, wie die identisch angezogenen Zwillingsschwestern: Goldrandbrillen, weiße Hosen, rote Blusen. Den Diepgen verehren sie. Er könnte ihr Junge sein. Diepgen ist jedermanns Junge.

„Volksnah müssen die Politiker sein“, sagt ein anderer, der will, dass sein Alter erraten wird. 73? „Falsch. 66.“ Früher war er für Schwimmbäder in Kreuzberg zuständig, erzählt er. Er lobe sich den Exaußenminister Klaus Kinkel. Der sei durch die Eckkneipen gezogen. Als Berliner allerdings, der den Krieg erlebt habe, weiß er auch nicht, was nun aus der Stadt werden soll. Ob das kritisch gemeint sei? „Nein.“

Einen echten Gegner hat Diepgen in der Runde dann allerdings doch. Es ist der Kellner. „Das sind doch hier die Leute mit dem Bankenskandal und so. Dass die jetzt über andere herziehen, das find ich nicht gut“, raunt er. „Ich wähl die grauen Panther.“

Diepgen selbst ist sich keiner Schuld bewusst. Fehler habe er in seiner Amtszeit keine gemacht, erklärt er auf Nachfrage. Gut, wenn er gewusst hätte, wie sich Berlin wirklich entwickelt, dann hätte er das mit den Entwicklungsgebieten noch mal überdacht. Dass es genug Leute gab, die die Bevölkerungs- und Wirtschaftsprognosen seiner damaligen Regierung für aberwitzig hielten, lässt er nicht gelten. Überhaupt: Wenn Diepgen widersprochen wird, wechselt seine Tonlage schnell ins Scharfe. Auch die Olympiabewerbung war richtig, räsoniert er. „Wäre sie durchgekommen, dann wäre Berlin schon viel weiter.“ In ähnlich simpler Manier erklärt sich dann auch seine Bilanz: 1991, als er nach seiner ersten Regierungsphase in den 80er-Jahren zum zweiten Mal Bürgermeister wurde, hatte Berlin umgerechnet knapp 11 Milliarden Euro Schulden. Zehn Jahre später, als er abgewählt wurde, waren es über 42 Milliarden. Diepgen wollte – so seine Worte – für Berlin nur das Beste. Jetzt will er sich im Bundestag dafür einsetzen, dass der Bund mehr Geld für die Stadt springen lässt.

Sein nächster Termin: der offene Abend in der historischen Neuköllner Schmiede. Gern zeigen ihm die jetzigen Betreiberinnen die alte Werkstatt, die eine dreihundertjährige Geschichte hat und im ältesten Teil des Bezirks am Richardplatz liegt. Dann erlahmt das Interesse an ihm. Etwas verloren steht er mit dem Bier in der Hand noch im Hof.

Als er gehen will, kreuzen Vertreterinnen des Frauenverbandes Courage, die sich nebenan treffen, seine Tour. Sie drücken ihm ihre Wahlprüfsteine in die Hand: gleicher Lohn für gleiche Arbeit; kostenlose und qualifizierte Kinderbetreuung; Steuererhöhung für Großkonzerne – so lauten einige ihrer Forderungen. Diepgen wirft nur einen Blick auf den Zettel und ist außer sich. Am Ende reden vier Frauen und der Kandidat wild durcheinander.

Volle Gleichstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften fordern die Frauen, Diepgen findet das gar nicht gut: „Ich bin für die Familie.“ Die Frauen monieren das Adoptionsrecht, das Scheidungsrecht. Diepgen: „Sie waren bei einem schlechten Anwalt.“ Das Gesundheitssystem, der Umweltschutz, das Steuer- und Bildungssystem werden vom Kandidaten dazu mit seinem erhobene Zeigefinger pariert. Der ersetzt Zuhören, Nachdenken und Handeln in einem. Nach minutenlanger Aufregung setzt eine der Frauen einen Schlusspunkt: „Mädels, lasst uns gehen.“ Die vier wenden sich von Diepgen ab, als wäre er nie da gewesen. „Der ist ooch dürre jeworden“, resümiert eine, „sind die Diäten so schlecht?“

Irgendwas läuft nicht so gut, wie es laufen könnte. Zwar soll der Kandidat, da sind sich die Demoskopen bisher einig, am Ende der Sieger sein, aber eine Jubeltour erlebt er in Neukölln nicht. Ganz anders ergeht es Helmut Kohl. Wie sein eigenes überdimensioniertes Double, wie ein zweiter Michelin-Mann wird er rotgesichtig durch die grölende Menge auf die Bühne in den Gropius Passagen geschoben. „Hel-Mut, Hel-Mut, Hel-Mut“, skandieren die Leute. „He-mu, he-mu, he-mu.“ Je länger es dauert, desto mehr erinnert der Schlachtruf an Hundegebell. „Ich bin gekommen, um Diepgen zu unterstützen“, ruft er ins Mikrofon. Eine Stunde lang redet Kohl, redet, redet, wirft dem Publikum Brocken hin, das Publikum fängt sie auf. „Die Sozialdemokraten sind gescheitert.“ Applaus. „Unser Vaterland.“ Applaus. „Unsere Trümmerfrauen“. Applaus, Applaus, Applaus.

Je länger Kohls Eloge jedoch dauert, desto gelangweilter stehen die Leute in ihren Trainingshosen und Rüschenblusen, ihrem verwaschenen Pastell und dem karierten Beige in der Halle herum. Je länger Kohl redet, desto kleiner wird Diepgen im Hintergrund. Am Ende bleibt ihm kaum mehr als ein Dank an den Vorredner. Zum Abschluss wird die Nationalhymne angestimmt. Als er später nach ein paar Autogrammkarten greift, die ihm hingestreckt werden, zittern seine Hände.

Ein Pflichtbesuch des Kandidaten steht noch aus: der bei den Migranten. Deshalb lässt sich Diepgen ein paar Tage später mit seiner Frau auf dem Türkenmarkt feiern. „Wie geht es“, fragt er den ersten Gemüsehändler und tut, als kenne er ihn seit Jahren. Auch dem nächsten und übernächsten Obstverkäufer dient er sich an.

Seine Frau hat einen Einkaufszettel dabei. Darauf steht auf Türkisch, was sie braucht. Ein Freund habe es für sie aufgeschrieben. So kämpft sich der Kandidat durch die Menge und freut sich, wenn einer ihn kennt. Monika Diepgen kauft ein, ihr Mann trägt die Tüten. „Es ist wie überall, die Frauen geben das Geld aus: Die Männer müssen schleppen“, sagt einer aus der CDU-Wahltour-Kohorte.

Wie auswendig gelernt

Der Satz ist das Stichwort für die Frage, die besser nicht gestellt worden wäre: Herr Diepgen, was können Sie den Kopftuchfrauen hier bieten? „Wir können ihre Interessen vertreten. Wir erwarten aber auch, dass sie Deutsch lernen“, antwortet er. Es klingt wie auswendig gelernt. Welche Interessen sie denn hätten, die er vertreten wolle. „Da gibt es objektive und subjektive“, meint er. Er muss gemerkt haben, dass seine Antwort ihn zum Verlierer macht, denn er spricht sofort eine der Migrantinnen an und fragt sie: „Was sind Ihre Interessen?“ Dass es endlich vernünftige Kinderbetreuung gibt, dass mehr Geld in Bildung fließt, dass die Jugendlichen Ausbildungsplätze bekommen, antwortet sie in perfektem Deutsch. Das Gleiche sagt auch einer vom türkischen Unternehmerverband, der die Tour des Kandidaten mitorganisiert hat. „Menschlich mag er in Ordnung sein, politisch folge ich ihm nicht.“

Diepgen spielt derweil seine Rolle weiter: „Wie geht es?“ – „Seit wann sind Sie hier?“ Mit so einfachen Fragen gewinnt er die einfachen Leute. Die sollen ihn wählen. Darum geht es. Es geht nicht darum, dass er ansonsten nichts mit ihnen zu tun haben möchte.