Multikulturalismus auf Türkisch

Wie lassen sich säkulare Demokratie und Islam auf einen Nenner bringen? Auf einer Tagung in Berlin wurde diskutiert, ob die Türkei dafür nicht sogar als Modell taugt. Immerhin argumentieren islamische Intellektuelle inzwischen mit universalistischen Werten, wenn sie das Kopftuchverbot geißeln

Paradox: Die Muslime wollen in die EU, die säkulare Elite leistet Widerstand

VON DANIEL BAX

„Gibt es hier einen Gebetsraum?“, fragt eine junge Türkin mit hellgrünem Kopftuch die Empfangsdame vor dem Konferenzraum. Die Frau ist verdutzt und muss die Frage verneinen: Darauf sei man nicht vorbereitet. Die Szene ereignete sich am Rande der Tagung mit dem Titel „Modell Türkei?“, und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich selbst das Haus der Kulturen der Welt in Berlin damit noch nicht jeder multikulturellen Herausforderung gewappnet zeigte. So bleibt denn noch genügend Diskussionsstoff, um solche Symposien zu veranstalten.

Die Türkei als Modell? Der Titel der Tagung, die das Begleitprogramm zu der seit Juli laufenden Kunstausstellung „Urbane Welten: Fokus Istanbul“ im Martin-Gropius-Bau bildete, ist natürlich bereits eine Provokation für all jene, die es gewohnt sind, die Türkei lediglich als Summe ihrer Defizite zu betrachten: Man kann sich förmlich vorstellen, wie sich manchen FAZ-Redakteuren bei dieser Vorstellung die Fußnägel hochrollen. Dabei ist es natürlich mehr als fragwürdig, sich vom Blick auf die Kunstszene in Istanbul irgendwelche Rückschlüsse auf die gesamte Türkei zu versprechen, wie das die Konferenz nahe legte. Schließlich könnte die Millionenmetropole am Bosporus, was ihre Wirtschaftskraft und ihre kulturelle Dynamik betrifft, schon morgen Eingang in die EU finden. Doch was sagt das über den Rest des Landes? So zerfiel die Tagung auch in zwei Teile: in Gespräche mit den Künstlern aus Istanbul und in einen Diskurs der geladenen Publizisten und Wissenschaftler über die Türkei.

Dass die Türkei ein Beispiel für die Vereinbarkeit von säkularer Demokratie und Islam sei, war das unterschwellige Leitmotiv der Veranstaltung. Der armenische Publizist Hrant Dink warnte jedoch vor einer solchen Fixierung auf den Islam: Sie ignoriere, dass die Türkei kein rein muslimisches Land sei, aber auch die Vielfalt im türkischen Islam, namentlich zwischen Sunniten und Aleviten. Außerdem, bemerkte er am zweiten Tag, sei deswegen das größte Problem der Türkei noch gar nicht zur Sprache gekommen: die Kurdenfrage. Trotzdem und „trotz aller bitteren Erfahrungen“ sah auch Dink in der Türkei das Modell eines multikulturellen Gemeinwesens, dessen Erfahrungen für andere Nationen, wenn schon nicht beispielhaft, so doch lehrreich sein könnte.

Die Multikulturalität der Türkei ist ein ungeliebtes Erbe des osmanischen Vielvölkerstaats. Die Antwort der türkischen Republik auf dessen verbliebene Vielfalt war, sie in das enge Korsett eines imaginären Türkentums als Nationalidentität zu schnüren, auf Kosten der bürgerlichen Freiheiten. Bis heute lautet daher eine Grundfrage aller politischen Debatten: Wie viel Partikularismus darf, wie viel Konsenszwang muss es in der Türkei geben? Längst hat auch die Multikulturalismus-Debatte den Weg ins Türkische gefunden. Ob es auch sinnvoll ist, das deutsche Wort von der „Parallelgesellschaft“ ins Türkische zu übersetzen, wie bei dieser Tagung versucht wurde, darf allerdings bezweifelt werden. Den Begriff gibt es mit gutem Grund schon im Englischen nicht, und auch die meisten türkischen Referenten konnten damit herzlich wenig anfangen. Denn in der Türkei geht es immer noch vorwiegend darum, sich vom Staat persönliche Freiräume zu ertrotzen.

Deswegen ist auch der staatlich verordnete Säkularismus in der Türkei in jüngster Zeit nicht nur von religiöser, sondern auch von liberaler Seite in die Kritik geraten. Denn dieser Säkularismus hatte in der Türkei immer zwei Gesichter: Zum einen diente er dazu, das religiöse Leben unter die Kontrolle des Staates und in die Schranken eines offiziellen Islam zu weisen. Zum anderen bedienten sich selbst überzeugte Laizisten gerne der Religion als sozialem Kitt, wenn es ihren Zwecken diente: So war es das Militär, das nach dem Putsch von 1980 den Religionsunterricht an den Schulen eingeführt und den Moscheenbau gefördert hatte, wie Cem Özdemir in Erinnerung rief, und kein finsterer Fundamentalist.

Dafür hat die Türkei nun, als vorläufiges Ergebnis ihrer keineswegs gradlinigen Entwicklung, das scheinbare Paradox einer islamisch orientierten Regierungspartei hervorgebracht, die die Integration der Türkei in die EU vorantreibt, während der Widerstand dagegen hauptsächlich aus dem säkularen Establishment kommt. Immer wieder kehrte die Debatte allerdings zu der Frage zurück, ob die Liberalität und die Westorientierung der gegenwärtigen Regierung lediglich der aktuellen Machtbalance geschuldet und ob dem Ministerpräsidenten Erdogan auch unter veränderten Bedingungen zu trauen sei.

Dessen Partei sei der Ausdruck einer neuen muslimischen Elite, die säkulare Demokratie und Religion nicht mehr als Gegensatzpaar denke und Frömmigkeit als individuelle Angelegenheit betrachte, versuchte der in Istanbul lebende Publizist Günter Seufert solche Ängste zu beruhigen. Diese neuen islamischen Intellektuellen argumentieren mit universalistischen Werten, nicht mit religiösen Geboten, wenn sie etwa das Kopftuchverbot an türkischen Universitäten geißeln. Doch wie glaubhaft sind sie, wenn es um die Freiheit der Andersdenkenden geht? Da herrscht in säkularen Kreisen Misstrauen vor. Denn, wie Hrant Dink bemerkte: Jede Gruppe fordere Toleranz stets nur für die eigene Gruppe ein, ein echter Bürgersinn sei unterentwickelt.

Um das Kopftuch und um die Freiheit, keines zu tragen, wurde deshalb immer wieder gerungen. Viele Fragen aus dem Publikum kreisten schon am ersten Abend um den sozialen Druck in bestimmten Gegenden der Türkei, ein Kopftuch zu tragen, an Ramadan zu fasten oder keinen Alkohol in der Öffentlichkeit zu trinken. Da stand die junge Frau mit dem grünen Kopftuch auf und sagte, auch sie werde in manchen Bezirken Istanbuls scheel angeschaut, weil sie ein Kopftuch trage, das gemeinsame Ziel aber müsse doch gegenseitige Toleranz sein. Diesem Mindestkonsens mochte niemand widersprechen.