Weltbank fordert mehr Gerechtigkeit

Die Weltbank-Experten entdecken in ihrem Weltentwicklungsbericht 2006, dass es ohne Chancengleichheit keine ernst zu nehmende Entwicklung geben kann. Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) freut sich, Attac bleibt hingegen skeptisch

VON STEPHAN KOSCH

Die Weltbank hat ein neues Thema entdeckt: soziale Gerechtigkeit. Zumindest ist dies das Thema ihres diesjährigen Weltentwicklungsberichts, der gestern in Berlin vorgestellt wurde. Im vergangenen Jahr betonte die Organisation, die vor allem Kredite an Entwicklungsländer vergibt, noch die wichtige Rolle von Privatunternehmen bei der Armutsbekämpfung. Wenige Tage vor dem UN-Gipfel zu den Millenniumszielen, bei denen viel über die Länder des Südens geredet wird, lautet nun das Credo: Soziale Gerechtigkeit ist die Voraussetzung für die Entwicklung eines Landes. Bundesentwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) nannte das einen „Paradigmenwechsel“.

In der Tat zeigt sich die Weltbank in ihrem 360 Seiten starken Bericht durchaus selbstkritisch. So hätte die Privatisierung von öffentlicher Infrastruktur in Lateinamerika die Zugangsmöglichkeiten zu Wasser und Strom erhöht. In einigen Fällen seien die Preise aber so stark angestiegen, dass die Vorteile wieder zunichte gemacht worden seien und für weit verbreitete Unzufriedenheit gesorgt hätten.

Auch mit Blick auf das Bankenwesen zeigt sich die Weltbank kritisch. Dessen Liberalisierung sei häufig von den Mächtigen oder Reichen kontrolliert worden. Der Bericht nennt Mexiko, Tschechien oder Russland als Beispiele. Und auch die Öffnung für Handel und ausländische Direktinvestitionen sei in den vergangenen zwei Jahrzehnten in vielen Ländern von einer wachsenden Ungleichheit bei den Einkommen begleitet worden.

Allerdings finden sich auch klassische neoliberale Positionen in dem Bericht. So warnen die Autoren beispielsweise die Entwicklungsländer, sie sollen keine hohen Steuern auf hohe Einkommen erheben, sondern stattdessen lieber den Konsum breit besteuern. Das trifft im Zweifel Menschen mit geringem Einkommen härter und trägt kaum zur Chancengleichheit bei.

Dabei stellte Weltbank-Chefökonom François Bourguignon gestern diese in den Mittelpunkt. „Chancengleichheit und Wirtschaftswachstum gehen miteinander einher“, sagte er und verwies auf die Fallen der Ungleichheit, in denen Menschen über Generationen hinweg gefangen seien. Die Weltbank forderte auch international mehr Chancengleichheit. Die Industrienationen sollten Zuwanderung von Arbeitskräften aus Entwicklungsländern zulassen und die Herstellung von Nachahmermedikamenten in Afrika, Asien und Lateinamerika erlauben.

Wieczorek-Zeul zeigte sich über den ungewohnten Schwerpunkt des Berichts erfreut. „Es ist wichtig, dass die Weltbank bei dieser Linie bleibt“, sagte sie.

Weniger euphorisch ist Philip Hersel, Finanzexperte beim globalisierungskritischen Netzwerk Attac. Bereits seit einigen Jahren beauftrage die Weltbank kritische Autoren mit den Berichten. In der konkreten Politik finde dies aber keinen Niederschlag. „Es ist so, als ob ein Kartenleser auf der Rücksitzbank dem Fahrer sagt, dass der Weg falsch ist. Aber die Richtung will niemand ändern.“