: Die inneren Ausweichmanöver
Schon weil sie so grandios getanzt sind, folgt man den Szenen des Nederlands Dans Theaters atemlos. Beim Gastspiel in Berlin stellen sie vier aufregende Tanzstücke vor
Von Katrin-Bettina Müller
Das Genre des Thrillers ist ungewöhnlich im Tanz und Tanztheater. Bei dem Programm, mit dem sich das Nederlands Dans Theater für fünf Vorstellungen im Haus der Berliner Festspiele vorstellt, sind aber gleich zwei neuere Stücke dabei, die viel von Nervenkitzel, von latenter Bedrohung und dem Unheimlichen wissen. In „The missing door“ von Gabriela Carrizo verläuft die Zeit in Schlaufen und spult Momente des Erschreckens vorwärts und rückwärts ab. Blutflecken auf Händen und Hemden lassen erst ein Verbrechen vermuten, dann sind die Flecken verschwunden und die gerade als vermeintlich Tote aus dem Raum geschleifte Frau kommt wieder durch eine der vielen Türen herein. Das gleicht auch einer skurrilen Gespenstergeschichte, in der das Knarzen von Türen zugleich das Geräusch zu sein scheint, das aus dem Inneren eines Körpers kommt, aus dem Gelenk eines langsam bewegten Frauenbeins.
Ebenso gleicht „The Statement“ (von 2016) von Crystal Pite einem beklemmenden Kammerspiel. Aus dem Off hört man eine Diskussion unter vier Beteiligten, einen Streit über Verantwortung, es geht um einen entfernt ausgebrochenen Krieg und wie die eigenen Geschäfte dazu beigetragen haben. Zwei Tänzerinnen und zwei Tänzer begegnen sich dazu an einem spiegelnden Tisch und ihre Bewegungen akzentuieren den Text, entlarven die Positionen manchmal bis zur Karikatur. Scharf wie Attacken schießen Hände in die Tischmitte vor, das Schlenkern der Beine und die Biegungen des Torso erzählen von inneren Ausweichmanövern und Verstellungen. Es ist verblüffend, wie hier in zwanzig Minuten ein Wirtschaftskrimi Fahrt aufnimmt, Hierarchien und weitergereichten Druck abbildet, von Strategien der Propaganda und Verleugnung erzählt.
Dass man all dem so atemlos folgt, so gespannt an den Bewegungen hängt, mit denen ein junger Mann, der den Boden aufwischt in ein irres Kreiseln verfällt, liegt auch an der großen Virtuosität und technischen Präzision der jungen Tänzer des Nederlands Dans Theaters. 1959 gegründet, hat das NDT eine reiche Geschichte der Modernisierung des Balletts und der Verbindung mit zeitgenössischem Tanz. Kaum eine andere Kompanie hat es über so viel Jahrzehnte hinweg geschafft, sich zusammen mit jüngeren Choreografen immer wieder ein beeindruckendes Repertoire zu schaffen.
Für das aktuelle Gastspiel haben sie das Haus der Berliner Festspiele gemietet. Das ist erst mal überraschend, denkt man doch, so eine hervorragende und beliebte Kompanie wäre eher als Highlight eingeladen. Tatsächlich machte im aktuellen Heft der kleinen Zeitschrift tanzraumberlin der Journalist Arnd Wesemann darauf aufmerksam, dass sich zurzeit keine Berliner Institution mehr um große Tanzgastspiele und zeitgenössische Ballettkompanien bemüht. Ins Haus der Berliner Festspiele kommen sie auf eigenes Unternehmerrisiko, müssen die Öffentlichkeitsarbeit selbst organisieren. Im Fall des NDT hat das funktioniert, die fünf Vorstellungen sind ausverkauft.
Ein wenig haftet dem vierteiligen Abend allerdings auch etwas von einer Schau an, die das Ensemble von vielen Glanzseiten her vorstellen will. Die beiden unterhaltsamen Tanztheaterkrimis sind gerahmt von abstrakteren Choreografien, die sich ganz aus der Bewegung entwickeln. Von Paul Lightfoot, der das NDT leitet, stammt das letzte und längste Stück des Abends, „Safe as houses“ 2001 zusammen mit Sol León entwickelt, zu Kompositionen von Johann Sebastian Bach. Es ist ein Stück voller Anmut und Zartheit, voll von Schönheit und Geschwindigkeit, das die Linien der Bewegung virtuos verflicht, beginnen und enden lässt wie ein schnell über ein Blatt Papier huschender Stift.
Tänzerisch am aufregendsten aber, und das Publikum sofort begeisternd, waren die ersten 15 Minuten, „Woke up Blind“, von Marco Goecke zu zwei Songs von Jeff Buckley entwickelt. Die Lieder kommen aus einem tief emotionalen Raum, einem einsamen Rückzugsort, mit einer intimen Stimme, die den Zuhörer ganz nah an sich heran lässt. Die sieben Tänzerinnen aber tun genau das nicht, ihre Körper stehen unter ungeheurer Spannung, man sieht ihr Zittern, das Hervortreten von Muskeln und Sehnen, man spürt ihre Aggression, die Bereitschaft zur Abwehr. Sie fauchen sich an, sie begegnen sich nicht mit Vertrauen und mehr und mehr vermischt sich ihr menschliches Aussehen mit technoiden Zügen, wie von Robotern und mit einer bedrohlichen Wildheit, die man eher der Tierwelt zuordnet. Man konnte sich vorstellen, sie wären Mutanten einer düsteren Zukunft, umschlossen von der Trauer um das, was an Mitgefühl verloren ging.
NDT, Haus der Berliner Festspiele, 30. 11. + 1. + 2. 12., 20 Uhr
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