: OrtderNähe
Die Sonne scheint für alle. So steht es geschrieben auf einem der Grabsteine des Alten St.-Matthäus-Kirchhofs in der Berliner Großgörschenstraße. An diesem Novembertag aber ist das gar nicht wahr, es ist alles grau und nieselig und kalt ist es auch. Es ist ein Friedhof mit S-Bahn-Anschluss, Yorckstraße, mitten in der Stadt. Die Bahn beschleunigt im Minutentakt aus dem Bahnhof heraus und am Friedhof vorbei, der ansonsten von steil in den Himmel ragenden Brandschutzwänden der umliegenden Mietskasernen umgeben ist. Wie von einem Wald. Es ist eine begehrte Wohnanlage. Am Friedhof wohnen, da ist es so schön ruhig.
„Entschuldigen Sie – kennen Sie sich aus hier?“ fragt eine ältere Dame, „wo ist denn das Grab von Rio Reiser? Rudolf Virchow haben wir schon gefunden“. Gleich dort, an der Hauptachse rechts, wo der Baum umgestürzt ist, seine Wurzeln ragen jetzt seitlich hoch in die Luft. Jemand hat das Grab schon winterfest gemacht und mit Tannen abgedeckt.
Es ist auch ein Promi-Friedhof, die Brüder Grimm liegen hier. Und ein Szene-Friedhof, der vielen schwulen Männern, die an den Folgen von Aids gestorben sind, eine letzte Ruhestätte bietet. Die Polittunte Ovo Maltine liegt hier, der Schriftsteller Napoleon Seyfarth, der Filmschaffende Manfred Salzgeber – die Liste ist grauenhaft lang.
Gleich neben dem „RotZSchwul“Aktivisten Gottfried Ensslin, dem Bruder von Gudrun Ensslin, liegt Maike Jansen begraben, taz-Kollegin und Kuratorin, die 2015 in noch jungen Jahren gestorben ist. Ihr Mailadresse lautete ich@taz.de, genau so schlicht und gut ist der Gedenkstein ihres Urnengrabes, der schon ein wenig Moos angesetzt hat. Das geht schnell.
Eine Frau um die fünfzig geht an mir vorbei, als ich vor Maikes Grab stehe, und lächelt mich an, da ist so was wie Nähe, auch sie ist hier, um sich an jemanden zu erinnern, der nicht mehr lebt. Sie geht zu einem polierten Grabstein und streicht sacht mit der Hand darüber.
Es gibt auch „Mustergrabstellen“, die gar nicht belegt sind, aber bereits gestaltet – man kann schon mal reinschnuppern sozusagen, „Bei Nachfragen melden sie sich bitte an die Kirchhofverwaltung“; es gibt kein Schild hier, das das Lachen verbieten würde.
Am Eingang des Alten St.-Matthäus-Kirchhofs gibt es ein Pförtnerhäuschen, in dem eine Blumenhandlung und ein kleines Café beheimatet sind, das Café Finovo. Der Kuchen ist selbstgebacken, zum Beispiel Käsekuchen mit Birne. Es ist alles schön trutschig eingerichtet, mit Gründerzeit-Schnickschnack und handbestickten Tischdecken. Es ist warm hier drinnen und der Kaffee duftet. Eine Scheibe des Doppelkastenfensters hat einen Riss. Und draußen sieht man plötzlich die Sonne. Martin Reichert
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