WÄHREND AM ORANIENPLATZ DIE DURCHGESTYLTEN ÜBER DIE ÄSTHETIK DES WHITE TRASH DISKUTIEREN, FRIEREN VOR DEM FENSTER DIE FLÜCHTLINGE IM HUNGERSTREIK
: Die verkrampfte Boheme kichertsh

VON JURI STERNBURG

Plötzlich ist es zappenduster. Einige pressen eine Art Glucksen oder ein Kreischen aus ihren Kehlen, das ein oder andere Sektglas klirrt. Ich hatte soeben demjenigen ein Bier auf meine Kosten versprochen, der die unzähligen Stecker aus der Starkstromsteckdose zieht, und nicht mit so viel Motivation und Gier nach Freibier gerechnet. Außerdem dachte ich, dass wir zu alt wären für solche Scherze. Kurz darauf werden hektisch Stecker umgesteckt, immer wieder erstrahlt eine Hälfte des Raumes im Licht, dann geht es wieder aus und woanders geht das Spiel von vorne los. Um uns herum wird verächtlich geschnauft, doch ich verteidige mich: Zieht man einen Stecker, ist dies eine Straftat, werden Hunderte gezogen, ist es eine politische Aktion.

In Verbindung mit dem anwesenden Szenepublikum wirkt die Fotoausstellung im ehemaligen Kaufhaus Maassen in der Oranienstraße wie eine Ü-30-Stroboskobdisko in Zeitlupe. Auf fünf Etagen werden dort Abschlussarbeiten der Ostkreuzschule für Fotografie präsentiert. Wie Kleinkinder laufen wir durchs Treppenhaus und erfreuen uns an unserem pubertären Wagemut. Vor vielen Jahren, als es hier noch „Frank’s Billardsalon“ gab und die großen Säle meist für türkische Hochzeiten gemietet wurden, rannte ich genauso amüsiert die Treppen hinauf. Wenn man es damals schaffte, sich auf eine Hochzeit zu schmuggeln, reichte die verputzte Zuckerration in Form von Baklava für die nächsten Wochen. Gerade für ein Waldorfschulenkind wie mich. Doch diese Zeiten sind vorbei.

Während man nun zwischen den Fotos umherwandert und sich das noch halb volle Glas auffüllen lässt, fällt der Blick aus dem Fenster auf das Refugee Camp der protestierenden Flüchtlinge am Oranienplatz. In der vierten Etage diskutieren durchgestylte Schnösel über die Ästhetik der zur Schau gestellten Armut einer White-Trash/Trailerpark-Fotostrecke und auf dem Oranienplatz wird gerade ein Lagerfeuer angefacht, es ist kalt, es fehlen Decken und Schlafsäcke.

Vor der Tür gibt es inzwischen Gedränge, die Türsteher lassen keine Gäste mehr auf die öffentliche Veranstaltung, besonders nicht die Gruppe Kreuzberger Jugendlicher, die so gar nicht nach Fotografie-Abschlussklasse 2012 aussieht. Also beschäftigen die sich anders, statt sich Fotos anzuschauen, bewerfen sie einen touristischen Fahrradkonvoi mit Böllern. Die verkrampfte Boheme kichert, nimmt aber dennoch etwas räumlichen Abstand zu den Krawallbrüdern.

Wurf mit dem Fabergé-Ei

Der zur Schau gestellte Mikrokosmos ist erstaunlich nah an der gelebten Realität. Der Steckerzieher hat die Nase voll von den Zuständen und der Warterei, schließlich waren wir ja bereits drinnen, er beginnt, die ebenfalls Wartenden zum Sturm auf das Gebäude zu mobilisieren, während wir uns für den Spätverkauf und gegen den Cateringservice entscheiden.

Die Umstehenden wirken amüsiert, besonders die Kunstfreaks zeigen sich von so viel potenziellem Aufstand ganz begeistert und dann auch noch in Kreuzberg, während die Böller knallen und die Polizei wegen des Refugee Camps Dauerstreife fährt. Das hat den Touch einer nie erlebten Konsequenz. Man steigert sich verbal in die Ungerechtigkeit hinein, der ein oder andere steht eventuell kurz davor, ein Fabergé-Ei zu werfen. Doch als der Sturm auf die Tür beginnt, ist unser heldenhafter Steckerzieher der Einzige, der sich gegen die Wand aus Türstehern presst und somit auch der Einzige, der einen Schlag ins Gesicht kriegt. Die andern warten dann lieber, bis sich die Dinge von alleine ändern, die kurzweilige Abendunterhaltung nehmen sie aber dankend mit. Wir, die wir dem Verlauf eine andere Wendung hätten geben können, sind aber unserem Schicksal erlegen: Wir waren Bier holen.