Dieses Leben ist Strafe genug

Eine Mutter hat ihrem komatösen Sohn eine Überdosis Medikamente verabreicht, weil er nicht mehr leben wollte. Das Amtsgericht sprach sie gestern schuldig; es verzichtete aber auf eine Strafe

VON BARBARA BOLLWAHN

Einmal die Augen lange schließen hieß Ja. Zweimal die Augen lange schließen Nein. Auf diese Art verständigte sich Riccardo R. mit seiner Mutter. Seit einem Motorradunfall im Sommer 1995 befand sich der 29-Jährige infolge eines Hirntraumas in einem komatösen Zustand. Im Unterschied zu Patienten im Wachkoma, die nicht die geringste Äußerung willentlich von sich geben können, konnte er Zustimmung signalisieren: zu einem Schluck Wasser, zu einem Auflockern des Kissens, zum eigenen Tod.

Gestern musste sich seine Mutter, Brigitte R., vor dem Amtsgericht wegen Tötung auf Verlangen verantworten. Ihr wurde vorgeworfen, ihren Sohn am 11. Dezember 2004 auf dessen Wunsch in ihrer Neuköllner Wohnung mit einer Überdosis Medikamente getötet zu haben. Ganz in Schwarz gekleidet wiederholte sie unter Tränen, was sie bei ihrer Vernehmung vor neun Monaten gesagt hatte: „Ich habe meinem Sohn geholfen, aus dem Leben zu gehen.“

Die Mutter schilderte auf eindringliche Art, wie sie versucht hat, ihrem Sohn zu helfen: Die 53-jährige Bankkauffrau verkaufte ihr Haus in Forst, zog nach Berlin, wo er die Woche über in einem evangelischen Stift und die Wochenenden bei ihr war. „Ich habe sein Leben übernommen und mitgelebt. Es war wie eine Symbiose“, beschrieb sie das Verhältnis. Um ihm Lebensmut zu geben, ist sie mit ihm ins Kino gegangen, in den Tierpark, sogar zu einem Heavy-Metal-Konzert. „Obwohl es nicht die optimalste Lösung für ihn war, mit Muttern dahin zu gehen“, sagte sie. „Aber er war gefangen im eigenen Körper.“ Mehrfach habe er ihr zu verstehen gegeben, dass er so nicht weiterleben wolle. „Das war nur schwer zu ertragen. Ich wollte ja, dass er lebt.“

Zwei Wochen vor Weihnachten äußerte Riccardo R. wieder den Wunsch, zu sterben. Er habe unter den starken Schmerzen gelitten, die ihm die Magensonde bereitete, er habe große Angst vor dem Legen einer neuen Sonde zwei Tage später gehabt, er sei sehr frustriert gewesen. Kurz zuvor hatte das Sozialamt die Bezahlung eines Therapieplatzes abgelehnt. „Er spürte das.“ Mehrmals habe sie ihn gefragt, ob er wirklich sterben wolle, ob sie ihm wirklich die Medikamente verabreichen solle. Jedes Mal habe er ein Ja signalisiert.

Die Mutter mischte Antidepressiva, Schmerzmittel, Psychopharmaka und Schlafmittel zu einem Medikamentencocktail – „ich wollte, dass er einschläft ohne Schmerzen“ – und teilte ihn in zwei Portionen. Sie wollte mit ihrem Sohn sterben. Um auf Nummer sicher zu gehen, wollte sie sich die Pulsadern aufschneiden. Doch es gelang ihr nicht. Drei Tage später wurden Sohn und Mutter gefunden: Riccardo R. war an den Medikamenten gestorben, seine Mutter lag im Koma. Mit starker Unterkühlung und einer Lungenentzündung kam sie ins Krankenhaus. Die Rettungskräfte fanden einen Brief, in dem die Mutter darum bat, keine lebensverlängernden Maßnahmen einzuleiten.

Zwei Gutachter bestätigten, dass Riccardo R. in der Lage gewesen ist, seinen Willen zu äußern und seine Zustimmung zu seinem Tod zu geben. Zudem wurde betont, dass sich die Mutter „nicht einer unbequemen Situation entledigen wollte“, sondern dass sie ihr Leben ihrem Sohn geopfert habe und deshalb mit ihm zusammen sterben wollte.

Das Strafgesetzbuch sieht für Tötung auf Verlangen eine Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und fünf Jahren vor. Das Gericht sprach Brigitte R. zwar schuldig, aber es verzichtete auf eine Strafe. „Es wäre sicherlich anders ausgegangen“, sagte die Richterin, „wenn sie nicht auch ihr Leben hätte beenden wollen.“ Es grenze an ein Wunder, dass sie überlebt habe. „Nun muss sie den Tod des Sohnes verkraften und ihr eigenes Überleben.“