Bilder sehen lernen

In der „Nebeneinander“-Reihe werden im Arsenal didaktisch-pädagogische Filme Harun Farockis gezeigt, in denen Vermittlungsprozesse im Fokus stehen

In „Nicht löschbares Feuer“ (1969) untersucht Farocki die Napalmproduktion – er gilt vielen als ein Muster von ästhetisch-reflektiertem „politischen Film“ Foto: Arsenal

Von Fabian Tietke

Bilder sehen lernen. Ein kurzer Film, produziert 1970 von den beiden Filmemachern Harun Farocki und Hartmut Bitomsky. Beide im Zuge einer politischen Auseinandersetzung zwischen Studierenden und Akademieleitung ein gutes Jahr zuvor von der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) relegiert.

Vermittelt werden sollen audiovisuelle Codes, zwei Filmausschnitte werden gezeigt und auf ihre Erzählstruktur hin analysiert. Eine historische Filmsequenz verdeutlicht, dass das Verständnis von Filmsprache im Laufe des Lebens erlernt werden muss; eine Studioszene und ein Ausschnitt aus einem Kriminalfilm verdeutlichen, wie sehr Filmwahrnehmung auf Alltagserfahrungen und aus ihnen abgeleiteten Erwartungen basiert.

Der Film sollte Teil einer Reihe werden. Die Reihe ist nie realisiert worden. „Auvico, Spot 1“ ist eine der Entdeckungen im dritten und letzten Teil der Retrospektive zu Harun Farocki im Berliner Arsenal (20. 11., 20 Uhr). Die Frage, was wir in den Bildern eines Films sehen, zieht sich durch das Werk Harun Farockis. Vor „Auvico, Spot 1“ drehten Farocki und Bitomsky gemeinsam einen Film über den Einsatz von Napalm im Vietnamkrieg.

Immer wieder setzt „Nicht löschbares Feuer“ (23. 11., 20 Uhr) dabei auf Reihungen von Szenen, um verschiedene Perspektiven einzunehmen oder um Prozessualität zu verdeutlichen. Der mit der „Verbesserung“ des Napalms betraute Mitarbeiter von Dow Chemicals sitzt Kollegen gegenüber und fragt nach Inhaltsstoffen, die für die Produktion notwendig ist: Glyzerine, Benzin, Kunststoffe. Fazit: „Ein großer chemischer Konzern ist wie ein Baukasten.“ Ein Gabelstapler fährt mit einer Palette und zwei Kanistern mit der Aufschrift „Dow“ ins Gegenlicht. Ein Mann klettert auf die Tragflächen eines Kleinflugzeug und steigt in die Kabine. Das Flugzeug startet und versprüht eine Flüssigkeit.

Die Szenen kontrastieren den Einsatz von Insektiziden zum Nutzen der Landwirtschaft in Europa und den USA mit dem Einsatz von Herbiziden wie Agent Orange in Vietnam. Ein Mann wäscht sich in einem Badezimmer die Hände, greift zum Papierhandtuchspender, findet ihn leer vor, dreht sich um: Er ist ein Arbeiter, ein Student, der den Konzern überführen will, ein Ingenieur. Die Positionierung der jeweiligen Individuen gegenüber dem Konzern wird ebenso deutlich wie Rechtfertigungsstrategien.

Anfang der 1990er Jahre ist Farocki ein präziser Beobachter der Transformationsprozesse in Ostdeutschland und Osteuropa. 1992 montiert Farocki gemeinsam mit dem rumänischen Regisseur Andrej Ujica Videoaufnahmen vom Sturz Ceaușescus und der folgenden Umbrüche zu dem zu einem dreistündigen Dokumentarfilm: „Videogramme einer Revolution“. Im selben Jahr dokumentieren Farocki und Ujica eine Diskussion über den Film und sein Material in dem fast gleich langen Dokumentarfilm „Kamera und Wirklichkeit“ (21. 11., 19. 30 Uhr). Die Diskussion mit Andrei Pleșu, dem ersten Kulturminister Rumäniens nach der Revolution, und den Medienwissenschaftlern Friedrich Kittler, Manfred Schneider und Peter M. Spangenberg befragt präzise und erhellend das verwendete Videomaterial.

Zwei Jahre später entstehen zwei Filme zur Wende von 1989 und den Folgen. In „Die führende Rolle“ (22. 11., 21.15 Uhr) montiert Farocki TV-Bilder Ost- und Westdeutschlands von Oktober bis November 1989. Aus der Reibung zwischen den Perspektiven und den Bildern selbst zieht Farocki Ansätze zu einer Analyse, die weit über die Bilder selbst hinausgehen und Rückschlüsse auf politische Diskussionskulturen in den beiden deutschen Staaten zieht. „Die Umschulung“ (22. 11., 19 Uhr) dokumentiert die triste Realität der Nachwendezeit: Ein westdeutscher Trainer soll ostdeutschen Angestellten Verkaufstechniken nahebringen. In der Inszenierung des Trainings zur Selbstinszenierung werden westdeutsches Selbstverständnis und die Machtverhältnisse nach der Wende sichtbar.

Farockis Werk schwankt zwischen Bildproduktion und Bildanalyse sowie dem Ausdruck im Medium Film und der Schriftlichkeit, und es gibt auch eine Diskussion zur Bedeutung der Zeitschrift Filmkritik (24. 11., 19 Uhr), deren Redaktion Farocki zehn Jahre lang angehörte. So sperrig einige der Filme Farockis auf den ersten Blick wirken mögen, auch Jahrzehnte nach ihrer Entstehung lassen sie uns Bilder noch immer neu sehen. Wir müssen noch immer: Bilder sehen lernen.

Die „Nebeneinander“-Reihe gehört zur Harun-Farocki-Retrospektive, www.arsenal.de