BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Soziale Sicherheit? Nein danke

Im Osten waren die Maschen des sozialen Netzes so eng, dass ich Angst hatte, darin zu ersticken

Wenn von sozialer Sicherheit die Rede ist, und das passiert recht häufig in letzter Zeit, dann beschleicht mit ein ungutes Gefühl. Schuld ist der Osten, wo Vater Staat das Leben von der Wiege bis zur Bahre organisierte. Ganz uneigennützig war das natürlich nicht. Er wollte immer und überall den Überblick haben, wer wo was machte. Deshalb fand ich den Westen vom ersten Tag an toll. Weil ich ungestört tun und lassen kann, was ich will, und sich kein Schwein dafür interessiert, was ich so treibe.

Dazu muss man wissen, dass die soziale Sicherheit im Osten bizarre Blüten trieb: Ein Jahr vor Beendigung meines Studiums sollte ich einen Arbeitsvertrag unterschreiben. Das muss man sich mal vorstellen: Da wird ein Betrieb verpflichtet, einen Studenten einzustellen, bei dem noch gar nicht klar ist, wie er sein Studium beenden wird. Doch um Leistung ging es ja nicht. Die meisten meiner Kommilitonen fanden es toll, ihre Zukunft gesichert zu wissen, ohne auch nur den kleinen Finger rühren zu müssen. Ob der zukünftige Arbeitsplatz mit ihrem Studium zu tun hatte, war den meisten egal. Hauptsache, sie waren versorgt.

Ich fand es unerhört, dass die Universität oder sonst eine höhere Macht bestimmen wollte, wo ich als Spanischübersetzerin arbeiten soll. Aber ich konnte schimpfen wie ein Rohrspatz, auch ich musste so einen blöden Arbeitsvertrag unterschreiben. Und zwar mit dem Reisebüro der DDR, wo ich bereits ein Praktikum gemacht hatte. Meine vagen Hoffnungen auf einen halbwegs interessanten Arbeitsplatz hatten sich schon während des Praktikums zerschlagen, als ich mitbekam, dass es gar keine Verwendung für all die Uniabsolventen gab, obwohl das Reisebüro in einem 17-stöckigen Hochhaus am Alexanderplatz untergebracht war. Deshalb dachte ich, dass eine Aufhebung meines Arbeitsvertrages für beide Seiten eine gute Sache sein müsste.

Doch ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Es war fast genauso schwer, aus dem Arbeitsvertrag herauszukommen wie aus der DDR. Das Reisebüro wollte mich erst dann freigeben, wenn ein anderer Betrieb meine Akte anforderte beziehungsweise mich einstellte. Weil ich aber keine Lust hatte, mich in einem anderen sozialistischen Betrieb zu Tode zu langweilen, musste ich mir was einfallen lassen.

Ich wurde schwanger. Um mich aus den Klauen des Reisebüros zu befreien, dachte ich mir eine herzzerreißende Geschichte aus, die vor sozialistischen Klischees nur so strotzte: In einem Brief schrieb ich von der Schwangerschaft, dazu erfand ich einen Verlobten, der demnächst sein Studium in Moskau abschließen würde, und eine Neubauwohnung, die wir bald in Leipzig beziehen würden. Das Reisebüro antwortete, dass einem Auflösungsvertrag nichts im Wege stehe – wenn ein anderer Betrieb meine Personalakte anfordere.

Da war guter Rat wirklich teuer. Denn auch wenn soziale Sicherheit groß geschrieben wurde, konnte ich mir nicht vorstellen, dass ein Betrieb eine Schwangere einstellt. Trotzdem bewarb ich mich auf eine Stelle, die mich durchaus interessiert hätte. Das Institut für Jugendforschung in Leipzig suchte eine fähige Kraft für Spanisch und ich wurde zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Der Anfang verlief gut für mich. Es sollte eine Frau sein. Bingo. Eine junge Frau. Bingo. Eine, die ungebunden und an Wochenenden und auf Konferenzen einsetzbar ist. Bingo. Eine, die keine Kinder hat und vorerst auch keine haben will. Da war Schluss mit Bingo und ich kam ins Stottern. In meiner Personalakte, die aus der Hauptstadt nach Leipzig unterwegs war, war meine Schwangerschaft vermerkt. Ich bekam den Job natürlich nicht.

Dafür bekam ich zu meiner großen Überraschung den ersehnten Aufhebungsvertrag vom Reisebüro. Ich glaube, die waren froh, mich endlich los zu sein. Und ich war froh, mich aus dem engmaschigen Netz der sozialen Sicherheit befreit zu haben. Das Kind von damals ist jetzt zwanzig Jahre alt. Um seine soziale Sicherheit muss ich mir zum Glück keine Gedanken machen. Warum nicht? Der Schwangerschaftsschein war eine Fälschung.

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