Hier wird durchregiert

Das Ergebnis der Bundestagswahl läuft auf ein Patt hinaus. Trotzdem weigern sich die Parteien, in neuen Koalitionen zu denken. Warum Minderheitsregierungen in Deutschland so verpönt sind

VON JAN FEDDERSEN

Angela Merkel soll es ja anders gemeint haben, mehr im Hinblick auf die Effizienz, für die sie stehe, und auf Konsequenz, die sie verkörpere. Sie sprach jedenfalls, als sie ihre Anwartschaft auf den höchsten Regierungsposten begründete, vom „Durchregieren“, dem sie sich nach einem Wahlsieg widmen wolle.

Durchregieren – das klingt nicht zufällig nach durchstechen, durchzocken und durchziehen: Gern wird in Deutschland noch die Floskel von „ohne Rücksicht auf Verluste“ hinzufantasiert. In dem Wort ist der Wahn geborgen, dass Demokratie die Herrschaft einer Mehrheit über die Minderheit bedeutet – die auf Rechte von Minderheiten keinen Jota geben müsse.

Tatsächlich ist Deutschland das einzige Land mit Verhältniswahlrecht, das trotz differenzierter Parteienlandschaft – und sie wird durch den Einzug der Linkspartei in den Bundestag noch feingegliederter – glaubt, dass nur Mehrheitsbündnisse Stabilität und Solidität ermöglichen. Alle skandinavischen Länder, außerdem die Niederlande, Spanien, Portugal, Belgien oder einige osteuropäische Länder sind in ihren Parlamenten überwiegend von Minderheitsregierungen dominiert. Seltsam für deutsche Gemüter: Dass dort das Abendland nicht untergeht. In Schweden beispielsweise regieren die Sozialdemokraten allermeist aus einer Position der größten Partei heraus – die sich der Tolerierung durch andere Parteien sicher sein kann. Ministerpräsident Göran Persson kann sich auf die Grünen wie auf die Linkspartei verlassen, aber nötigenfalls auch auf die bürgerlichen Formationen, falls Postkommunisten wie Ökos fundamentaloppositionell agieren sollten.

Norwegen, wo am Montag die konservative Regierung Carl Bondeviks abgewählt wurde, ist nun mit der in seiner Geschichte seltenen Konstellation konfrontiert, dass die neue Regierung aus Roten und Grünen über eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze verfügt. Der neue Ministerpräsident Jens Stoltenberg hat aber schon versichert, dass seine Regierung trotzdem in engem, konsensuellem Kontakt mit den anderen Parteien stehen werde.

Davon abgesehen, dass in skandinavischen Ländern schon der wahlkämpfende Sound ein anderer ist, zum Beispiel auf Drohgebilde wie seitens der CSU oder der Linkspartei verzichtet, und Alarmismus verpönt ist, nimmt es vielleicht nicht wunder, dass Deutschland, was das Konsensuelle anbetrifft, noch Nachholbedarf hat: Denn „durchregieren“, das ist sprachlich genommen nichts als das Phantasma vom FührerInnenwillen, von der harten Hand und damit von der Verachtung für den Kompromiss als solchen. Nirgend sonst hat dieses Wort solch verächtlichen Ton wie bei uns: Im Deutschen wird zu diesem Begriff gleich das Adjektiv „faul“ hinzugefühlt.

Dabei ist der Kompromiss die Substanz dessen, was am Ende einer politischen Machtmoderation in einer Demokratie übrig bleibt: Um keine ewigen Feindschaften zu hinterlassen, um alle Optionen für alle Zeiten offen zu halten – das unterscheidet ein lebendiges politisches Gemeinwesen von dem erstickten eines totalitären Regimes, um eine der zentralen Thesen Hannah Ahrends zu paraphrasieren.

Was ist also so falsch an Überlegungen zu einer Ampelkoalition, was an Grübeleien in schwarz-grüner Hinsicht? In Skandinavien sind dies übliche strategische Erwägungen, in den Niederlanden ebenso: Was provoziert die Empörung – da doch ohnehin alle Parteien grundgesetzgeprüft sind? Was ist für die Union so echauffierend an der Idee Klaus Wowereits (SPD), irgendwann sei eine Allianz (keine Vermählung!) mit der Linkspartei denkbar? Ist es nicht vielmehr, die anderen Teile des Parteienspektrums in den Blick genommen, ein Fehler der FDP, sich so zeitig auf ein Bündnis mit der Union festzulegen? Warum ist in der Union niemand so reif, kühl auf das Potenzial einer Zusammenarbeit mit den libertären Ökos hinzuweisen?

Die Überlegungen Bodo Ramelows, des Wahlmanagers der PDS, sind so verkehrt nicht: Irgendwann wird es ein Bündnis geben müssen mit der wichtigsten Stimmungspartei in den fünf Ostländern. Wer nicht unentwegt die Topoi von Ost und West antiaufklärerisch instrumentalisieren will – und das tut die Union ja gern –, muss auf Teilhabeansprüche der Linkspartei eingehen: In Skandinavien, mit ähnlichen Konfigurationen, klappt das zugunsten eines inneren Friedens vorzüglich. Hätte Stoltenberg in Norwegen auch nur andeutungsweise vom Wunsch gesprochen, „durchregieren“ zu wollen, wäre seine Partei abgestürzt: Man hätte das als Strafe für politische Omnipotenzfantasien deuten müssen.