die woche in berlin
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SPD-Fraktionschef Raed Saleh wird von Parteigenossen kritisiert, in Neukölln verschwinden Stolpersteine, der Senat sucht händeringend Kurzzeitpflegefamilien, und der erste neue geschützte Radstreifen kommt nun bald – und wird grün

Der Kron- prinz verliert an Land

SPD-Fraktionschef Raed Saleh und seine Partei

Seine Verdienste sind unstrittig. Als SPD-Fraktionsvorsitzender hat sich Raed Saleh dafür eingesetzt, die Kita-Gebühren abzuschaffen und mehr Sozialarbeiter an die Schulen zu bringen. Doch diese Verdienste rühren aus einer Zeit, in der die Berliner SPD mit der CDU regierte. Seit der Bildung des rot-rot-grünen Senats hat der SPD-Frak­tionschef seine neue Rolle dagegen noch nicht gefunden. Schlimmer noch: Er ist nicht einmal auf jeder Senatssitzung dabei, monierten am Mittwoch 14 Abgeordnete in einem offenen Brief an ihren Chef. Stattdessen tingele Saleh mit seinem Buch „Ich deutsch“ auf Lesereise durch die Bundesrepublik.

Zwischen Salehs Erfolgen und der in ihrer Deutlichkeit einmaligen Kritik liegt nicht einmal ein Jahr. Ein Jahr, in dem Saleh nicht durch konstruktive Frak­tions­arbeit geglänzt hat, sondern eher durch das Gegenteil. Statt Debatten anzustoßen, wurden sie unter den Tisch gekehrt. Statt die Fachpolitiker in ihrer Arbeit zu unterstützen, würde ein Pressesprecher angestellt, der lieber an Salehs Buch mitschrieb.

Und dann waren da noch die Angriffe auf den Regierenden Bürgermeister und SPD-Landes­chef Michael Müller. Immer wieder preschte Saleh vor, immer wieder spielte er hinterher den Unschuldigen, so wie Anfang des Jahres, als er im Abgeordnetenhaus unabgesprochen für mehr Videoüberwachung plädierte – und viel Beifall von CDU und AfD bekam. Danach gelobte er Besserung.

Doch Saleh, das haben sie nun wohl auch in der SPD-Fraktion lernen müssen, ist ein Wiederholungstäter – und beratungsresistent. Seine politische Agenda ist die Agenda einer politischen Ich-AG. „Ich deutsch“ heißt nichts anderes als: „Ich werde es euch zeigen.“ Als Buchautor mag man damit Erfolg haben, als ernstzunehmender Politiker nicht.

Lange Zeit wurde Saleh auch wegen seines Alters von gerade 40 Jahren als Politiker mit Zukunft in der Berliner SPD gehandelt, auch als möglicher Nachfolger von Müller. Nun aber zeigt sich, dass der Spandauer ein Kronprinz ohne Hinterland ist. Wer nur polarisiert, statt zu moderieren, wird langfristig keine Mehrheiten bekommen. Dafür hat Saleh schon viel zu viele seiner Anhänger enttäuscht. So wurde aus dem Saleh-Fan Harald Georgi, immerhin Kreisvorsitzender in Friedrichshain-Kreuzberg, inzwischen ein erbitterter Saleh-Gegner. War’s das? Wo es mit Saleh demnächst hingehen kann, könnte sein Vorschlag zeigen, Synagogen wieder aufzubauen, die in der Pogromnacht zerstört wurden. Der Muslim als Bündnispartner von Juden und Christen. Einer, der mit klarer Kante gegen Kriminelle vorgeht. In den Talkshows ist der Buschkowsky-Platz frei geworden. Saleh wäre ein würdiger Nach­folger. Uwe Rada

Blick nach unten, Blick nach rechts

In Neukölln werden 20 Stolpersteine geklaut

Unmittelbar vor dem Jahrestag der Reichspo­grom­nacht am Donnerstag verschwinden in Neukölln mindestens 20 Stolpersteine; in der Nacht zu Freitag ein weiterer. Jene kleinen Betonquader mit Messingoberseite also, die vor der letzten frei gewählten Wohnadresse an Menschen erinnern, die zwischen 1933 und 1945 von den Nationalsozialisten verfolgt und meist ermordet wurden. Einen derart massiven und konzentrierten Diebstahl der Gedenksteine gab es bislang in ganz Deutschland nicht. Auch wenn die Täter unbekannt sind, liegt es nahe, dass es sich um Neo­nazis handelt. Der Staatsschutz ermittelt.

Wahrscheinlich wird man nie aufklären können, wer die Täter sind. In den vergangenen Monaten und Jahren haben Rechte immer wieder in Neukölln zugeschlagen: Autos von Linken wurden angezündet, rechte Parolen geschmiert, linke Läden mit Brandsätzen attackiert, Scheiben eingeworfen. Es gab nie Bekennerschreiben. Der Polizei gelang es bis heute nicht, auch nur einen Verdächtigen festzu­nehmen. So eta­bliert sich in dem eigentlich entweder als Hipster-, Getto- oder Kleinbürgerkiez bezeichneten Bezirk eine konstante rechte Bedrohung.

Die Reaktionen nach dem Diebstahl der Stolpersteine machen Hoffnung: Viele Menschen hätten sich gemeldet und Hilfe angeboten, die Spendenbereitschaft sei groß, sagt die Leiterin der Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin, Silvija Kavčič.

Doch das reicht nicht, natürlich nicht. Im Jahr eins nach dem Einzug der AfD ins Berliner Abgeordnetenhaus und unmittelbar nach dem Einzug der AfD in den Bundestag muss man sich dieser rechten Präsenz in vielen Bereichen des Alltags viel stärker als bisher bewusst werden. Man muss den Blick öfter als bisher nach unten richten auf die Stolpersteine. Und die Gefahren erkennen, die mit ihrem Verschwinden auftauchen. Bert Schulz

Ein Engagement von Herzen

In Berlin fehlen Kurzzeitpflegefamilien

Vor einigen Jahren war die Autorin dieser Zeilen mit ihrer eigenen Tochter im Krankenhaus. Im Nachbarbett lag ein Kind mit einer seltenen Stoffwechselerkrankung. Mit spezieller Ernährung ließen sich Folgeschäden verhindern, ansonsten war der Kleine gesund. Der Familie musste das Kind weggenommen werden, weil sie sich nicht ausreichend kümmerte. Die Angehörigen kamen auch nicht zu Besuch. Acht Monate war der Junge alt und wurde außer zu den Mahlzeiten kaum aus dem Gitterbettchen genommen. Das Krankenhauspersonal hatte dafür keine Kapazitäten. Der Kleine schien sich schon gewöhnt zu haben und schrie nicht (mehr). „So lieb ist er“, sagten die Schwestern. Es schmerzt noch heute, daran zu denken.

Es ist naheliegend, was dieses Kind gebraucht hätte: sofort eine feste Bezugsperson, die sich so um es kümmert, wie es liebevolle und verantwortungsvolle Eltern tun würden. Kurzzeit- oder Bereitschaftspflege nennt man das. Und daran, so berichteten wir in dieser Woche, mangelt es in Berlin akut so sehr, dass die Landesberatungsstelle Berliner Pflegekinderhilfe jetzt eine Werbeaktion im ­U-Bahn-Fernsehen startete. Rund 300 Kinder pro Jahr, so die Schätzungen der Landesberatungsstelle, können nicht in eine Pflegefamilie, sondern müssen in Heimeinrichtungen untergebracht werden, die – so gut sie auch sind – eine feste Eins-zu-eins-Betreuung nicht ersetzen können. Viele dieser Kinder sind erst wenige Monate, Wochen oder Tage alt.

Es wäre toll, wenn sich dieser Missstand mit einem Aufruf an die Politik beseitigen ließe. ­Kinderschutz ist doch ein öffentlicher Auftrag, ein Menschenrecht in dieser Gesellschaft. Und sicher: Die Politik könnte die Rahmenbedingungen für Kurzzeitpflege verbessern. Etwa indem sie Gelder für eine Bereitschaftsentschädigung bereitstellt, weil ja nicht nur die Pflege eines oftmals traumatisierten Kindes viel Zeit bindet, sondern weil sich Kurzzeitpflegeeltern auch in der ­Zwischenzeit bereithalten müssen, um binnen wenigen Stunden ein Kind aufnehmen zu können.

Aber letztlich ist klar: Kurzzeitpflege ist kein Verdienstmodell. Man kann die Bedingungen verbessern, aber dieses Engagement ist und bleibt ein familiäres, ein ganz persönliches. Eines, das sich mit Geld vielleicht ausgleichen, aber nicht entlohnen lässt.

Es braucht Menschen, die sich aus dem Herzen heraus entscheiden, Kindern in Not ein befristetes Zuhause zu geben, die Zeit und finanzielle Sicherheit, die Belastbarkeit mitbringen und einsetzen, um das zu stemmen. Es bleibt zu hoffen, dass sich in dieser diversen Stadt auch von diesen Menschen noch genügend finden.

Manuela Heim

„Es braucht Menschen, die sich aus dem Herzen heraus entschei-den“

Manuela Heim über Kurzzeitpflegefamilien, von denen es zu wenige gibt

Wir nehmen uns die Straße!

Der erste geschützte Radstreifen kommt

Noch ist das neue Berliner Radgesetz nicht in Kraft, und, sehr zum Unmut der AktivistInnen, die dafür gekämpft haben, dürfte es auch im laufenden Jahr nicht mehr dazu kommen. Dafür hat die Verkehrsverwaltung der grünennahen Senatorin Regine Günther am Montag ein erstes konkretes Projekt vorgestellt, das zeigt, wohin die Reise gehen soll: An der Hasenheide zwischen Kreuzberg und Neukölln wird im kommenden Frühjahr ein geschützter Radstreifen entstehen, wie ihn die Stadt noch nicht gesehen hat.

Dass der Streifen farblich hervorgehoben wird – und zwar in Grün –, ist dabei am wenigsten bemerkenswert. Viel wichtiger: Er wird mindestens 2 Meter breit sein und vom Autoverkehr abgetrennt durch eine 1 Meter breite Sperrfläche mit Pollern. Das dürfte für ein komplett neues Gefühl von Sicherheit und Komfort bei den Fahrenden sorgen. Zumindest in Teilbereichen fallen zugunsten der Maßnahme bestehende Parkplätze weg.

Mehr als ein Anfang ist das natürlich nicht, zumal bislang nur eine der beiden Straßenseiten derart ausgestattet werden soll. Aber weitere geschützte Streifen sind in Planung, heißt es, und überhaupt: So etwas gibt es in ganz Deutschland noch nicht. Berlin macht hier wirklich mal den Vorreiter, auch wenn „Poller“ immer schwer piefig klingt.

Die neuen Radstreifen, so sie denn in großer Zahl kommen, eröffnen endlich eine neue Qualität im städtischen Radverkehr. Sie sind eine endgültige Absage an die unsäglichen gepflasterten Bürgersteig-Radwege der 80er Jahre, die heute als Mahnmal daran erinnern, dass RadfahrerInnen einmal mehr oder minder belächelte Randfiguren im großen Mobilitätsspiel waren.

Sie brechen aber auch mit der unter anderem lange vom ADFC propagierten Ideologie des vehicular driving, die davon ausgeht, dass das Fahrrad wie jedes andere Verkehrsmittel mitten auf die Straße gehört, zwischen Lastwagen, Busse und verhinderte Rennwagenfahrer im SUV. Dieses Prinzip „Wir nehmen uns die Straße“ klingt ganz gut, war aber schon immer auf Menschen zugeschnitten, die schnell, sicher und robust Rad fahren. Im Idealfall junge Männer.

Aber auch jetzt nehmen sich die RadfahrerInnen – jeden Alters, Geschlechts und Gemüts – die Straße. Indem sie den in so vieler Hinsicht gesundheitsgefährdenden motorisierten Vehikeln einfach ganze Spuren wegnehmen. Weiter so!

Claudius Prößer