Erinnerungslücken in Neukölln

Vor dem heutigen Gedenktag an die Pogromnacht 1938 verschwinden Stolpersteine für Nazi-Opfer

Wie eine Wunde im Boden: Hier lag bis vor Kurzem ein Stolperstein Foto: Friedrich Kraft

Von Friedrich Kraft

Wenige Tage vor dem Jahrestag der antijüdischen Pogrome vom 9. November 1938 sind in Berlin-Neukölln zahlreiche Stolpersteine entwendet worden. Die vor deren ehemaligen Wohnorten in den Boden eingelassenen Steine erinnern an Opfer der Nationalsozialisten – Jüdinnen und Juden, WiderstandskämpferInnen, verfolgte Homosexuelle, Sinti und Roma, Euthanasieopfer.

Bemerkt wurden die fehlenden Gedenksteine am Montagmorgen, Dienstagabend galten 16 als gestohlen. Nach Informationen der taz waren Mittwochnachmittag mindestens 20 Steine in einem Radius von mehreren Kilometern verschwunden. Schwerpunkt der Diebstähle war die Hufeisensiedlung rund um die Parchimer Allee. Der Staatsschutz hat die Ermittlungen übernommen.

Dass Neonazis dahinterstecken, liegt nahe. Denn dass jemand die Steine im Glauben klaut, sie seien wertvoll, erscheint haltlos: Sie sind aus Beton gegossen und nur mit einer dünnen Messingplatte bedeckt.

Zudem hatten Rechtsextreme bereits in den vergangenen Jahren versucht, zum Gedenktag für Aufsehen zu sorgen: 2016 veröffentlichten sie auf Facebook eine Liste von 70 jüdischen Geschäften und Einrichtungen in Berlin mit dem Slogan „Juden unter uns“. Zum 9. November 2011 wurde ein Brandanschlag auf das Anton-Schmaus-Haus der Falken in Neukölln verübt.

Die meisten der nun verschwundenen Stolpersteinen erinnern an antifaschistische Gegner der Nationalsozialisten. Jürgen Schulte von der Bürgerinitiative „Hufeisern gegen rechts“ zieht deshalb eine Parallele zu den zahlreichen Naziangriffen der vergangenen Jahre in Neukölln. „Der Angriff auf die Steine und das mit ihnen verbundene Gedenken ist in eine Linie mit dem Kampf gegen ‚Volksfeinde‘ zu setzen“, erklärt er gegenüber der taz. Hierzu hätten die Nazis von Beginn an nicht nur jüdische Menschen, sondern auch politische Widersacher gezählt, so Schulte weiter: „Damals wie heute.“ Der Begriff der „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“ illustriere dies.

Mit vielen Veranstaltungen wird heute an die Pogromnacht vom 9. November 1938 erinnert. Um 12 Uhr findet eine Kranz­niederlegung von Auschwitz-Überlebenden an der Gedenktafel am Wittenbergplatz statt. Um 14 Uhr ist Stilles Gedenken an der Synagoge am Fraenkelufer. Um 17 Uhr beginnt eine Gedenkveranstaltung mit Zeitzeuginnen am Mahnmal Levetzowstraße in Moabit. Um 17.30 Uhr wird die Fotoinstalla­tion „Gegen das Vergessen“ des Künstlers Luigi Toscano mit großformatigen Porträts von Überlebenden der NS-­Verfolgung in der Sophienkirche eröffnet. (taz, dpa)

Politiker, Initiativen und Bürger zeigten sich entsetzt über die Taten. Silvija Kavic, Leiterin der Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin, betont: „In dieser Form gab es das bislang nicht!“ Zwar seien bereits Stolpersteine beschmiert oder zerkratzt worden, gestohlen aber noch keiner.

Grüne, SPD und Linke haben für die nächste Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung einen Antrag eingereicht, der den Diebstahl der Steine verurteilt und eine zügige Wiederherstellung fordert.

Viele Menschen signalisierten bereits Spendenbereitschaft, um die in den Bürgersteigen klaffenden Erinnerungslücken zu schließen. 120 Euro kostet die Legung eines Stolpersteins.

Anna und Samson Baruch Wurzel

Aus der Nähe von Krakau zog die jüdische Familie Wurzel Anfang des 20. Jahrhunderts nach Berlin. Annas Wurzels Vater Samson Baruch führte ein kleines Tabakwarengeschäft in der Bürgerstraße in Neukölln, wo sie oft aushalf.

Ein Drittel der deutschen Juden lebte zu Beginn der 1930er Jahre in Berlin. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 begannen ihre systematische Ausgrenzung und Verfolgung. Während der Reichspogromnacht – heute vor 79 Jahren – wurde auch das Tabakgeschäft der Wurzels von SS-Leuten gestürmt, geplündert und zerstört.

Anfang 1943 begab sich der damals bereits 85 Jahre alte Familienvater in das Jüdische Krankenhaus in Berlin-Mitte. Von hier aus wurde er Ende Mai 1943 zusammen mit 330 weiteren alten Menschen ins Getto Theresienstadt deportiert. Dort soll er wenige Monate später ermordet worden sein.

Bereits im Februar desselben Jahres wurde Anna mit dem 29. Transport zusammen mit etwa 1.000 weiteren Berliner Jüdinnen und Juden nach Auschwitz-Birkenau gebracht. Hier starb sie zu einem unbekannten Zeitpunkt, wenige Kilometer von ihrem Geburtsort entfernt.

Die Spur des jüngeren Bruder Josef verliert sich 1943 in einem Lager in Krakau.

Wienand Kaash

Aus dem Ersten Weltkrieg kehrte Kaash hoch dekoriert und dennoch als Kriegsgegner zurück. Über die SPD landet er bei der KPD, setzte sich dort für freie Gewerkschaften und die Vernetzung mit nichtkommunistischen Organisationen ein. 1935 wurde er verhaftet. Er starb zu Beginn des Jahres 1945 in Haft, da ihm die Behandlung seiner Gicht verweigert wurde. Wienand Kaash bekam nie ein Begräbnis: Seine Leiche wurde Schweinen in einer Müllgrube zum Fraß vorgeworfen, sein Stolperstein war somit auch ein symbolischer Grabstein. (fk)

Stolpersteine

Weitere Nazi-Opfer, deren Stolpersteine in Neukölln gestohlen wurden:

Paul Wilhelm Fürst

Arthur Hecht

Luci Tana Hecht

Kurt Gärtner

Benno Wittenberg

Hedwig Wittenberg

Erwin Wittenberg

Stanislaw Kubicki

Hans-Georg Vötter

Rudolf Peter

Heinrich Uetzfeld

Georg Obst

Else Grand

Johanna Grand

Karl Tybussek

Gertrud Seele

Bereits früh gerät Seele mit Nazis in Konflikt: Als junge Frau wird sie nach spöttischen Kommentaren über ihren nationalsozialistischen Rektor der Schule verwiesen. Nach schweren Luftangriffen auf Berlin bringt sie sich und ihre Tochter auf einem Bauernhof in der Lausitz in Sicherheit. Erneut macht sie aus ihrer Gegnerschaft zu Krieg und Hitler kein Geheimnis: Nach einem Streit mit der Bäuerin wird sie wegen „gehässiger und kriegshetzerischer Äußerungen“ angeklagt. Seele wird zum Tode verurteilt und am 12.Januar 1945 hingerichtet. (fk)