die woche in berlin
: Nichtstun war keine Option mehr

Die Obdachlosen im Tiergarten sorgen für Diskussionen, junge Skater kämpfen mit Erfolg um eine leere Halle als ihr neues Domizil, ein TV-Bericht über angebliche Zuhälterei in Flüchtlingsheimen sorgt für Wirbel, und Air Berlin ist nun Geschichte

Erik Peter über die siegreiche Besetzung einer seit Langem leerstehenden Halle durch junge Skater

Scheitern? Bitte woanders!

Debatte über Obdach-lose aus Osteuropa

Dass es für Waren und Menschen innerhalb der EU quasi keine Grenzen gibt, gehört definitiv zu den feinen Sachen. Oder sagen wir mal zu denen, von denen wir alle nur zu gern profitieren: vom T-Shirt, günstig genäht in Rumänien, von der Pflegekraft aus der Slowakei, die einen Job macht, für den sich hier einfach nicht mehr genug finden. In Zeiten der wachsenden Stadt (siehe Seite 41, 44, 45) wäre auch der derzeitige Berliner Bauboom undenkbar ohne Arbeitskräfte aus Ost- und Südosteuropa.

Nun gibt es zwischen der Freiheit im Warenverkehr und der sogenannten Arbeitnehmerfreizügigkeit einen wesent­lichen Unterschied. Die Lebensgeschichten, die mit billig produzierten Konsumgütern verbunden sind, verbleiben im Heimatland: Menschen, die krank werden oder Leistungsvorgaben nicht mehr schaffen, die Gescheiterten, die Elenden. Dem T-Shirt für neunneunundneunzig haften sie höchstens imaginär an.

Ganz anders verhält es sich mit Menschen, die aus ärmeren EU-Ländern kommen und in einem wirtschaftlich florierenden Deutschland nach Arbeit suchen. Die allermeisten tragen wie gesagt einen gehörigen Teil dazu bei, dass diese und andere Städte überhaupt funktionieren. Aber auch die, die es aus persönlichen oder gesellschaftlichen Gründen nicht schaffen, sind dann erst einmal hier.

Und nachdem diese Gruppe von der Stadt jahrelang ignoriert wurde, sind es jetzt plötzlich – oh Wunder – eine ganze Menge: Weit mehr als die Hälfte aller Berliner Obdachlosen kommt inzwischen aus anderen EU-Ländern, so die Schätzung der Wohlfahrtsorganisationen. Nach Jahren ohne ausreichende Betreuung fallen jetzt einzelne von ihnen als aggressiv auf. Und nun rufen Politiker nach Abschiebung und bloß nicht zu viel Hilfe, das könnte Anreiz für noch mehr Obdachlose aus Osteuropa sein.

Arbeiten hier, Scheitern bitte woanders? Dazu lässt sich nur sagen: Es ist von jeher ein schmutziges Geschäft, wenn man sich an den Vorteilen einer globalisierten Welt bereichert, sich aber mit den Nachteilen nicht befassen will.

Manuela Heim

Erfolgreiche Besetzung in Marzahn

Jugendliche Skater erstreiten ich eine Halle

Über Jahre hinweg haben sich jugendliche Skater in Marzahn zusammen mit ihren Streetworkern für eine Halle zum Rollern, Biken und Skaten engagiert. Sie haben einen Verein gegründet, Bauanträge gestellt, Gespräche geführt. Was sie bekamen, waren schöne Absichtserklärungen und warme Worte von Politikern. Es ist ja eine gute Sache, wenn die Kids, viele aus armen Familien, auch in der nassen und kalten Jahreszeit einer sinnvollen Freizeitgestaltung nachgehen können. Zumindest theoretisch. Praktisch folgte ein verlorener Winter auf den nächsten.

Vermutlich hätten die Sportbegeisterten noch ewig so weitermachen können, auf scheinbar demokratischem Weg um eine seit 27 Jahren leerstehende Betonhalle zu kämpfen. Zu ihrem eigenen Glück haben sie das nicht getan und das Gebäude einfach besetzt. Die Bezirkspolitiker erwachten, als die Polizei am Sonntag kurz davor stand, Dutzende Jugendliche aus der Halle herauszutragen. Die Personalien für Anzeigen waren schon aufgenommen.

Von da an ging dann alles schnell. Am Mittwoch stand fest: Die Skater kriegen die Halle, der Bezirk kümmert sich um Toiletten und den Brandschutz. All die Paragrafen, die in der Vergangenheit den Weg zu einer Lösung versperrt hatten, konnten angesichts des öffentlichen Drucks auf einmal zur Seite geschoben werden. Nichtstun war keine Option mehr. Für die Jugendlichen ist das ein schöner Erfolg – und eine wichtige Erfahrung: Sie haben gelernt, dass es sich lohnt, für die eigenen Anliegen einzustehen, sie haben sich selbst organisiert und dabei fürs Leben gelernt.

Auch darüber hinaus ist das Ergebnis erfreulich. Die Kids haben gezeigt, dass man sich gegen offensichtliche Ungerechtigkeiten wehren kann. Sie haben bewiesen, dass vieles von dem, was als nicht möglich klassifiziert wird, ganz schnell möglich gemacht werden kann. Profitiert haben sie dabei von ihrem Sonderstatus als Minderjährige. Ebenso wie bei den besetzenden Rentnern in der Stillen Straße oder den Flüchtlinge in der Ohlauer Straße war es für die Politiker schwer, sich ihnen entgegenzustellen. Dafür brauchte es aber erst die begrenzte Regelverletzung. Das ist schade. Aber auch daraus lässt sich lernen. Erik Peter

Blowjobs
für
fünf Euro

Prostitution in Flüchtlingsheimen

In Berlin kümmern sich viele um Flüchtlinge – überwiegend EhrenamtlerInnen mit ebenso ehrenwerten Absichten. Aber auch Kriminelle entdecken die Zielgruppe – mit keineswegs ehrenvollen Zielen.

Zunehmend schlingt sich um Geflüchtete, die noch in Wohnheimen leben, ein Netz krimineller Strukturen, das die Notlagen der NeuberlinerInnen gewinnbringend ausnutzt. Etwa indem es sie in illegale Schwarzarbeit vermittelt oder ihnen gegen Zahlung von bis zu mehreren tausend Euro Mietverträge über dunkle Kanäle beschafft. Angebote, die manche Geflüchtete – wissend um die Illegalität oft nur ungern – annehmen. Sie haben Familien in der Heimat, in griechischen, jordanischen, libanesischen Flüchtlingslagern zu unterstützen, die Kosten der eigenen Flucht abzubezahlen oder wollen einfach mit der Familie endlich in eine auf legalem Weg für sie kaum mehr zu findende eigene Wohnung ziehen.

Was das ZDF diese Woche aufdeckte, geht noch einen Schritt weiter in der Ausnutzung der Notlage vieler Flüchtlinge. Mitarbeiter von in Flüchtlingsunterkünften tätigen Securityfirmen vermitteln die Menschen, die sie eigentlich schützen sollen, in Drogenhandel und Prostitution. Von „Blowjobs für fünf Euro“ berichtete am Donnerstag die Leiterin von „Moabit hilft“, Diana Henniges, im taz-Interview. Ja, zu solchen Angeboten kann man auch als Geflüchteter in Not Nein sagen. Wie groß müssen Not und Verzweiflung sein, wenn man es nicht tut?

Berlin ist – so lange, wie sie hier sind – verantwortlich für das Wohl der Menschen, die wir als schutzbedürftig aufgenommen haben. Immer wieder hat es Skandale um Sicherheitspersonal in den Wohnheimen gegeben, oft erklärt mit der Schwierigkeit, angesichts hoher Flüchtlingszahlen etablierte Securityfirmen zu finden. Doch die Zeit der hohen Zahlen ist vorbei. Es ist dem Senat inzwischen gelungen, sich von zweifelhaften Flüchtlingsheimbetreibern zu trennen. Nun muss endlich schnell weiter aussortiert werden – auch damit sich das kriminelle Netz nicht noch enger spinnt. Alke Wierth

Die Solidarität stärken

Auch ein Air-Berlin-Pilot verdient Mitleid

Ein Airbus-Kapitän der insolventen Fluggesellschaft Air Berlin soll nach eigener Rechnung künftig statt 170.000 Euro brutto im Jahr nur noch 129.500 Euro bei Eurowings verdienen. „Dem geht es ja wohl zu gut“, heißt es jetzt oft. Na ja, aber er hat Familie, ist nicht mehr der Jüngste und muss vielleicht weit wegziehen … „Na und? Das ist bei dem Gehalt doch zumutbar“, könnte man antworten. Ist es falsch, mit reichen Menschen Mitleid zu haben?

Es stimmt natürlich: Von einem Jahresgehalt in Höhe von 129.500 Euro können viele ihr Leben lang nur träumen. Kran­ken­pfleger*innen zum Beispiel, Verkäufer*innen, So­zial­arbeiter*innen, taz-Re­dak­teu­r*in­nen. Oder auch die direkten Kol­leg*innen des Piloten, die Flug­begleiter*innen, von denen eine berichtete, sie würde bei Eurowings nur noch 1.500 Euro netto verdienen. Damit reiht sie sich in die obige Auflistung mühelos ein.

Doch die Menschen in ihrer existenziellen wie emotionalen Extremsituation gegeneinander auszuspielen, wäre falsch. Viel wichtiger ist es, die Solidarität der Beschäftigten untereinander zu stärken. Denn die versuchen Air Berlin – am Freitag zum letzten Mal gestartet und gelandet –, Lufthansa und Eurowings gerade zu brechen. Sie versuchen das, indem sie die langjährigen Mitarbeitenden zwingen wollen, sich auf ihre eigenen Jobs neu zu bewerben. Sie versuchen das, indem sie den ersten 15, die sich etwa als Trainingskapitäne bewerben, 20.000 Euro versprechen.

Sie versuchen das, indem sie die 400 Piloten- und 800 Flug­begleiter*innen-Stellen, die Eurowings ausschreibt, allen zugänglich machen, nicht nur Air-Berliner*innen. Sie versuchen das, indem sie ihre Mitarbeitenden dazu anhalten, sich so schnell wie möglich zu bewerben, anstatt ihre Rechte wahrzunehmen. Bei Air Berlin gibt es viele Alleinerziehende, Mütter, alleinstehende Frauen, die auf das Geld besonders angewiesen sind. Solidarität ist teuer, und nicht jede*r kann sie sich leisten.

Das weiß auch die Lufthansa und wollte sich partout nicht an einer Auffanggesellschaft beteiligen, die mittlerweile ohnehin vom Tisch ist. Dadurch hätten die Menschen ja womöglich noch ausreichend Absicherung gehabt, um Rückgrat zu zeigen. Wer da eingetreten wäre, hätte übrigens auch sein Klagerecht gegenüber Air Berlin eingebüßt.

Wer von seinem langjährigen Arbeitgeber und dem Aushängeschild der deutschen Luftfahrt derart mit Füßen getreten wird, der verdient Mitleid, ganz unabhängig vom Gehalt.

Hanna Voß