in fussballland
: Ein ächzender Abend

Christoph Biermann begibt sich auf eine Zwischenstation und stellt die Sinnfrage

Ich wollte meinem Vater nichts vormachen und mir auch nicht. Ich besuchte ihn, weil ich mir hinterher noch das zweite Heimspiel des VfL Bochum in dieser Saison anschauen wollte, und nutzte nicht etwa den Besuch bei ihm, um nebenbei noch ins Stadion zu gehen. Er war mir wegen der Reihenfolge der Präferenzen nicht böse – wie hätte er auch? Schließlich hatte er mich doch vor vielen Jahren zum Fußball mitgenommen und all das auf den Weg gebracht. Andererseits wäre ein wenig Selbstbetrug an diesem Abend nötig gewesen, denn mit sechs Stadionbesuchen in acht Tagen hatte ich keinen Mangel an Fußball.

Außerdem werden die Montagsspiele der zweiten Liga gleich von zwei Sendern live übertragen, und man kann bei Premiere das Liveerlebnis simulieren, wenn man sich das Spiel nur mit Stadion-Sound anschaut. Doch wem muss man noch erklären, dass live nur auf den Rängen live ist, auch wenn die persönliche Ökobilanz dabei mal wieder in den Keller gefahren wird. Aber es gab ja noch andere, die seltsame Entscheidungen gefällt hatten. Der Schweizer David Pallas etwa, der am Mittwoch mit dem FC Thun in der Champions League beim FC Arsenal hätte antreten können. Er entschied sich für einen Wechsel nach Bochum und für die Partie gegen Rostock am Montag.

Mein mir unbekannter Sitznachbar nannte den auffallend kleinwüchsigen Außenverteidiger aus der Schweiz bald nur „der Zwergstaat“. Was nur ein halb guter Scherz war, denn von zwergenhafter Dimension ist die Schweiz nicht, aber es war kein Abend für gute Witze, sondern einer, in dem man die ganze Bürde spürte, die Anhänglichkeiten an einen Klub mit sich bringen. Schwer drückt die, wenn es auf dem Rasen so zäh zugeht, wie das zwischen den Bundesligaabsteigern der Fall war. Es war kein Abend der Dramen, sondern einer des Ächzens, weil alle zwar wollten, aber nichts richtig ging.

Da in der Nähe Jörg Schmadtke saß, der Manager des Ligakonkurrenten Aachen, konnte ich angesichts des Gemurkses auf dem Rasen eine Frage loswerden: Wie ist das eigentlich, wenn man für so etwas auch noch verantwortlich ist? Also nicht nur als Fan mitleidet, sondern von den Fans dafür auch noch verantwortlich gemacht wird? Schmadtke schob die Brille auf der Nase zurück und sagte: „Da kann man sich manchmal schon die Sinnfrage stellen.“ Was mich ehrlich gesagt fast mehr beruhigte als seine Prognose, dass Bochum durch einen späten Treffer gewinnen würde.

Derweil räsonierte mein Sitznachbar über die Möglichkeiten, die Bochums Schweizer Trainer Marcel Koller noch bleiben könnten. Unablässig sprach er dabei auf seinen Nebenmann ein, ohne auf eine Replik zu warten, eruierte Optionen, spielte Umstellungen durch und kam zu dem Schluss: „Ich würde den Imhof rausnehmen.“ Mehr als eine Stunde war zu diesem Zeitpunkt gespielt, und sein Kumpel fragte zurück: „Wer ist denn Imhof?“

Irgendwie beneidete ich ihn in diesem Moment. Der gute Mann saß im Stadion, ließ ein mäßiges Spiel an sich vorbeiplätschern, ohne zu tief in die Geschehnisse einzudringen oder sich gar von ihnen berühren zu lassen. Dass beim VfL Bochum ein Spieler namens Daniel Imhof spielte, der früher kanadischer Nationalspieler und im Sommer aus der Schweiz nach Bochum gekommen war, wusste er so wenig, wie es ihn interessierte. Auch mit irgendwelchen Sinnfragen hatte er an diesem Abend nichts am Hut, und wahrscheinlich weiß er schon jetzt nicht mehr, wie das Spiel ausgegangen ist. Bochum gewann durch ein spätes Tor, um genau zu sein, in der dritten Minute der Nachspielzeit. Schmadtke war da auf dem Weg nach Hause, was aber auch für ihn nur die Zwischenstation zur nächsten Sinnfrage ist.

Vom Autor ist ein neues Buch erschienen: „Fast alles über Fußball“. Kiepenheuer & Witsch