Die Stimme des Herrn züngelte

Kino der Kindheit (8): Im Astra-Kino, einem staubigen Bau in Brixen, schoben sich die Zungen vor die Filme

Ein Kino ist ein dunkler Ort mit dunkelroten Stühlen, abgewetzten Rückenlehnen und durchgedrückter Polsterung, in das man hineingeht, um die Zunge des neuen Freundes im Mund zu haben – und ihm umgekehrt die eigene in seinen Mund zu stecken. Die noch frisch nach der letzten Zigarette schmeckenden Zungen tummeln sich gemeinsam im jeweils fremden Mund (was nur Zungen können: sich im eigenen wie im fremden Mund tummeln), umschlingen sich wie Nacktschnecken und kehren erst wieder vollständig in ihr eigenes Häuschen zurück, wenn das Licht angeht.

Dann streicht die eigene Zunge über die eigenen Lippen, und das Paar greift einzeln nach der Flasche. Von da an geht man miteinander. Ins Kino aber meistens nicht mehr so oft.

Das Astra-Kino befindet sich noch heute direkt an der Staatsstraße von Brixen, entsprechend dick ist der Staub, der sich auf dem ockergelben Gebäude niedergelassen hat. Das Hinterteil ähnelt einem liegenden Schneckenhaus mit abgeplättetem Dach und einem Glasbetonkasten als Eingang. Es ist in seiner Verdrehtheit unzugehörig, nicht gerade schön, doch sehr in sich gekehrt, so dass es jedem Spott und bösem Urteil trotzt.

Als Kind wusste ich nicht, dass man im Kino auch anderes machen kann, als sich die Zunge des neuen Freundes in den Mund stecken zu lassen und es ihm umgekehrt mit der eigenen Zunge gleichzutun. So tat es meine Cousine, wenn sie sonntags mit dem Freund, mit dem sie ging, und seinem neuen Auto, das er fuhr, im Astra-Kino war. Dasselbe sah ich auch im Fernsehen, wenn dort ein Film lief, in dem es ein Kino gab, in das ein Paar ging, um dort zu knutschen. Es gab zwar parallel zum knutschenden Paar immer auch einen Film, der lief, aber der wurde nie gezeigt. Sondern nur das Paar, das im Kino knutschte. Wie gern hätte ich den Film gesehen. Kino, Zunge, Kind – einen anderen Sinn konnte ich als Kind dem Kino nicht abtrotzen, jedenfalls dem Astra-Kino nicht, und da es das einzige mir bekannte Kino war, galt dies für alle Kinos. Kinogehen war verbunden mit Verpaarung und anschließendem Nestbau, die Vorbereitung für die späteren Fernsehabende im Leben – dem Eheleben. Und mit dem Einstellen des ersten Kindes stellte sich recht zügig auch das Kinogehen ein.

Bis das erste Kind kommt, bleibt den Paaren noch ein Sommer oder ein zweiter und manchmal sogar noch ein dritter, um gemeinsam mit anderen Paaren ins Kino zu fahren.

Erst als ich zehn war, bemerkte ich, dass man im Kino auch ganz ungenötigt sein kann. Flankiert von meinen Eltern, die sich mit anderen Eltern von zehnjährigen Kindern zusammengeschlossen hatten, um gemeinsam den Film „Der wunderbare Funke“ anzusehen, saß ich im Kinosessel, und keine Zunge wollte in meinen Mund – stattdessen züngelte die Stimme des Herrn nach mir. Gezeigt wurde die Geschichte eines jungen Mädchens, das sich bei einem Sturz ins Wasser alle Knochen brach, in den Rollstuhl kam und dort zu Gott fand. Der Pfarrer hatte in der Messe auf den Film hingewiesen und ihn allen jungen Eltern mit ihren Kindern empfohlen.

Ein solcher Zulauf von Eltern mit Kindern war für das Astra-Kino aber die Ausnahme und wiederholte sich erst viele Jahre später, als „The Passion“ ins Kino kam – was Gott sei Dank nach meiner Zeit war und auf meine Nachcousins niederging.

Ich hatte in der Zwischenzeit Zeit, mich von ungewollten Berührtheiten gleich welcher Art zu befreien und die echte Bedeutung des Astra-Kinos zu erfahren: Wenn es Sommer ist und Sonntagnachmittag, sind die Dörfer auf den Alpenplateaus so gut wie ausgestorben; nur vereinzelt findet man Schwiegermütter mit Schwiegertöchtern auf einer sonnigen Veranda sitzen und aufs Alpenpanorama blicken, die Touristen genießen die Rundschau auf den Gipfeln – in Scharen trieb es da die Jungen ins Astra-Kino, um die Sonne, die sich wie eine flächige Depression auf unsere Gemüter gelegt hatte, durch einen echten Sonnenaufgang in Paramount-Format davonziehen zu lassen.

Tief im Tal bot das schummrige Astra-Kino der strahlend-klaren Liniertheit eines Lebens auf dem Alpenplateau die Stirn – für einen Augenblick nur, um die Jugend anschließend auf die vorbereiteten Bahnen zu lenken – oder auch woandershin. MARGARETH OBEXER