Intellektueller Marathon

Auf, auf zum Schreiben: zwei Stunden mit den beiden Literatur-Shootingstars Édouard Louis und Geoffroy de Lagasnerie im HAU 1

von Benjamin Trilling

Ohne Körpersprache läuft es nicht: Gelehrt gestikuliert de Lagasnerie mit den Händen. Die Füße kreiseln exaltiert, oft neigt er den Oberkörper nach vorne, zückt Schreibblock, Stift und notiert. Eine Frage? Eine Erkenntnis? Eine Parole?

„Soziologie ist ein Kampfsport“, hatte es Pierre Bourdieu formuliert. Der einstige Soziologie-Star ist auch wichtiger Ideengeber für das linksintellektuelle Trio, das gerade in Frankreich den Diskurs aufmischt: Didier Eribon, Geoffroy de Lagasnerie und Édouard Louis. Letztere hatten am Dienstag im Hebbel am Ufer ihren großen Auftritt.

Im Schlepptau natürlich die Themen, um die sich auch die beiden Bücher drehen, die die Literaturstars – mit publizistischer Strategie – gleichzeitig auf den Büchermarkt geworfen haben: Identität und Subjekt, Klassen und Rassismus, der Staat und die Justiz. Und immer wieder die Gewalt, die sich wie ein roter Faden durch die Diskussion zieht.

Wie ein Sparringspartner werden diese Themen in 120 Minuten ideologiekritisch zurechtgelegt und mit theoretischem Scharfsinn kleingekloppt. Ein ­intellektueller Marathon. Der engagierte Links­intellektuelle vom ­Typus Bourdieu oder Sartre ist zurück im Diskursboxring und teilt in der Öffentlichkeit ordentlich aus – gegen Le Pen etwa oder zuletzt den französischen Präsidenten.

Damit knüpfen sie auch an den Erfolg von Eribons „Rückkehr nach Reims“ an. Beide veröffentlichten im letzten Jahr gemeinsam das „Manifest für eine intellektuelle und politische Gegenoffensive“. In diesem Herbst legten sie nach: de Lagasnerie mit „Verurteilen – Der strafende Staat und die Soziologie“, eine Anatomie des strafenden bürgerlichen Staats, die zugleich eine Anklage gegen den Justizapparat ist. Denn das Paradoxon, auf das der Sozialphilosoph in seiner Analyse stößt: Um jemanden verurteilen zu können, muss die Tat individualistisch hergeleitet werden, während diese zugleich als Angriff gegen die „Gesellschaft“ oder den „Staat“ bewertet wird. Für den Soziologen ein wesentlicher Punkt von Herrschaft: „Es geht nicht um Individuen, sondern um Klassen“, sagt der junge Philosophieprofessor. Opfer von Polizeigewalt, Gefangene, das seien, wie er beziffert, zu 70 Prozent Mitglieder einer Ethnie oder sozialen Klasse.

Alltagserfahrung

Dieser Kreislauf von Gewalt ist auch das Material von Édouard Louis’autobiografischer Literatur. Ihn offenzulegen, darum geht es in seinem zweiten Roman „Im Herzen der Gewalt“, die Verarbeitung einer Vergewaltigung aus verschiedenen Perspektiven. „In der literarischen Welt herrscht eine Ideologie, die Dinge nicht zu sagen“, stellt der 24-Jährige fest. Nicht Fiktion, die alltägliche Erfahrung von Gewalt und Ungerechtigkeit ist Louis’Ausgangsmaterial.

Hier treffen sich wieder die beiden: Es geht um engagierte Literatur, die sich mutig einmischt. „Frankreich ist in einem katastrophalen politischen Zustand“, sagt Louis. „Es gibt eine Dringlichkeit, sich zu organisieren.“ Bei de Lagasnerie klingt das Projekt soziologischer: „Mit kreativer Gewalt eine Linke konstituieren!“ Darin hat auch der Intellektuelle seine Rolle: die Teilnahme am öffentlichen Raum durch das Schreiben. Es bleibt also beim soziologischen Kampfsport.