Merkel braucht jeden

AUS BERLIN LUKAS WALLRAFF

Was muss das für ein Triumphgefühl für Friedrich Merz sein.

Elf Monate war Angela Merkel ohne ihn ausgekommen. Seit seinem Rücktritt von allen Vorstandsposten hatte die CDU-Chefin keine Anstalten gemacht, ihn wieder einzubinden. Stattdessen präsentierte Merkel im August den Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof als ihren Wunsch-Finanzminister. Merz schien überflüssig – und genau das war Insidern zufolge ein Ziel der Kirchhof-Nominierung. Gestern nun, vier Tage vor der Wahl, erklärte Merkel: „Ich brauche sowohl Paul Kirchhof als auch Friedrich Merz.“

Es gehe nicht um ein Entweder-oder zwischen den beiden Steuerfachmännern, betonte Merkel nach der letzten Sitzung ihres Kompetenzteams, zu der Kirchhof über einen Hintereingang der Berliner CDU-Zentrale erschienen war. Wie man sich die Zusammenarbeit der Herren im Falle eines Wahlsiegs vorzustellen habe, ließ Merkel offen. Kirchhofs kuriosen Vorschlag einer „Tandemlösung“ wollte die Kandidatin nicht aufnehmen: „Die Intensität der Kooperation am Fahrmittel festzumachen, halte ich für problematisch.“ Es bleibe dabei, was sie über Kirchhof gesagt habe, also dass er Minister werde, „wenn es der Wähler erlaubt“, erklärte Merkel knapp. Doch es klang wie der mühsame Versuch einer Gesichtswahrung.

Für den Fall einer großen Koalition hat Kirchhof bereits von sich aus auf ein Amt verzichtet. Und noch nie wurde ein Ministerkandidat so schnell durch führende Politiker aus den eigenen Reihen desavouiert wie Kirchhof in den letzten Tagen.

Merkels gestrige Erklärung, sie brauche neben Kirchhof Merz, kam ja nicht aus heiterem Himmel. Vorausgegangen waren zahlreiche Äußerungen von CDU-Ministerpräsidenten wie Christian Wulff, Roland Koch und Günther Oettinger, die Kirchhofs radikale Reformideen in der Steuer- und Rentenpolitik skeptisch bis ablehnend bewertet und eine stärkere Rolle für Merz gefordert hatten. Diesem Druck gab Merkel nach. Ihre hilflose Erklärung: „Angesichts der Lage unseres Landes brauchen wir jeden, der mithilft.“ Damit die Degradierung Kirchhofs nicht gar so auffallen möge, stellte Merkel weiteren Mitgliedern ihres Kompetenzteams plötzlich rhetorisch zusätzliche Fachpolitiker zur Seite. Für die Familienpolitik, sagte Merkel, brauche sie nicht nur Ursula von der Leyen, sondern auch Frauen-Unions-Chefin Maria Böhmer. Für die innere Sicherheit neben Günther Beckstein auch CDU-Fraktionsvize Wolfgang Bosbach. „Ich bin froh über jeden und jede.“

Weniger groß dürfte Merkels Freude sein über die Art der Wahlkampfhilfe, die der frühere Siemens-Chef Heinrich von Pierer leistet, den sie vor kurzem als Wirtschaftspolitik-Berater engagiert hatte. Der CDU sei es im Wahlkampf nicht gelungen, „die wirklichen Probleme“ des Landes anzusprechen, sagte Pierer gestern der Financial Times Deutschland. „Die wichtigen Probleme, wie die Überalterung der Gesellschaft oder welche Einwanderungspolitik wir brauchen, werden überhaupt nicht diskutiert.“

Auch Merkel weiß, dass sie dringend neue Themen braucht, um von der Personal-Konfusion im Wahlkampfendspurt abzulenken. So kündigte sie nun an, gleich nach gewonnener Wahl einen „Energiegipfel“ abzuhalten. Und vorsichtshalber bekräftigte Merkel: Wenn es um eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU gehe, habe sie „eine andere Position als die SPD“. Direkt nach einer Regierungsübernahme werde sich die Union für eine privilegierte Partnerschaft stark machen. Ob es dazu kommt, sei „auch eine Frage, über die die Wähler entscheiden können“.

Nicht entscheiden können die Wähler dagegen, ob sich Merkel und Merz nach der Wahl tatsächlich zusammenraufen. Dagegen spricht: das gegenseitige Misstrauen, seit Merkel Merz den Fraktionsvorsitz abnahm. Dafür sprechen: Merz’ Popularität in der Union und der ausgeprägte Ehrgeiz beider.