Regionale Filme in Braunschweig: Wie gefangen in Niedersachsen
Beim Filmfest Braunschweig laufen regionale Filme in der Kategorie „Heimspiel“. Da wird die Badewanne der letzte Rückzugsort und der Wald die einzige Zuflucht.
BREMEN taz | Manchmal ist der englische Filmtitel passender als das Original. Bei „Morgen“, der auf dem Filmfest Braunschweig in der Kategorie „Heimspiel“ läuft, ist das so. Während „Morgen“ für alles oder nichts stehen kann, lässt „Swansong“, also „Schwanengesang“ erahnen, dass hier was zu Ende geht.
Der Film spielt im fiktiven Ort Mühlberg, der abgerissen wird, um dem Braunkohle-Tagebau Platz zu machen. Die meisten Bewohner haben sich schon umsiedeln lassen und die, die noch geblieben sind, leben in einer Art Zwischenzeit, in der alte Konflikte aufbrechen.
In fünf Episoden geht es darum, wie die Menschen mit dem Verlust ihres Ortes umgehen. Da ist eine Frau auf dem Weg nach Mühlberg, um ihrer Mutter, die sie zehn Jahre nicht gesehen hat, beim Ausräumen des Hauses zu helfen. Ein Vater, dessen Sohn vor kurzem bei einem Autounfall starb, muss damit umgehen, dass dessen Grab umgesetzt wird. Ein bettlägeriger alter Mann stirbt und seine Schwiegertochter muss während der Totenwache ihr kompliziertes Verhältnis zu ihm verarbeiten. Einer jungen Frau fällt es schwer zu akzeptieren, dass ihre Zwillingsschwester besser loslassen kann als sie selbst und für eine andere Frau ist die Badewanne das letzte Rückzugsgebiet.
Als Kollektiv produziert
Es sind weniger Geschichten als Impressionen. Und überzeugender als die Drehbücher ist aber die schwermütige Stimmung eines beinahe menschenleeren Ortes. Einfangen wurde diese Stimmung bei den Dreharbeiten in Bodenburg bei Hildesheim.
Das Besondere an „Morgen“ ist aber, dass Hildesheimer Filmbegeisterte den Film als Kollektiv produziert haben. Jede der fünf etwa 20 Minuten langen Episoden hat andere AutorInnen und RegisseurInnen. Finanziert wurde der Film mithilfe einer Crowdfunding-Kampagne, die im vergangenen Jahr etwas über 5.000 Euro einbrachte.
Dass mit diesem extrem geringen Budget tatsächlich ein Film gedreht werden konnte, liegt daran, dass das Filmteam überwiegend aus Studierenden und Alumni des Kulturcampus der Stiftung Universität Hildesheim besteht.
Herausgekommen ist ein stilistisch erstaunlich einheitlicher Film. Die Wechsel zwischen den einzelnen Erzählungen sind geschickt arrangiert. Dass da eine Protagonistin aus einer Episode beinahe eine Figur aus einer anderen mit dem Auto überfährt, ist zwar nicht gerade subtil, spricht aber für eine effektive Dramaturgie.
Gefangen in der Provinz
Seit 2016 wird beim Braunschweiger Filmfest der mit 1.000 Euro dotierte Filmpreis für die beste Regie eines regionalen Films vergeben. Sarah Ben Hardouzes „Wald“ läuft ebenfalls in dieser Reihe „Heimspiel“. Die Produktion der Hochschule für Fernsehen und Film München wurde rund um Wolfsburg gedreht und auf den ersten Blick könnte dieser 53-Minüter eine weitere Episode aus „Morgen“ sein.
Auch hier wirkt die Protagonistin wie gefangen in der norddeutschen Provinz. Auch sie scheint verloren in den Tag hinein zu leben. Doch die junge Regisseurin hat die Tiefen ihrer Filmfigur viel besser ausgelotet, und einen eigenen, spröden Stil entwickelt.
Die 18-jährige Anna ist ihres Lebens müde. Sie lässt sich durch die Tage treiben, hängt mit Freunden rum, die in einer Metal Band spielen, und handelt zunehmend selbstzerstörerisch. Im Wald hat sie sich aus Ästen und Zweigen einen Unterschlupf gebaut und mit einer Pistole übt sie vor dem Badezimmerspiegel, sich in den Kopf zu schießen.
Hardouze hat das Talent, Situationen zugleich intensiv und natürlich wirken zu lassen und Hauptdarstellerin Paula Knüpling ist in jeder Einstellung erstaunlich glaubwürdig. Bemerkenswert ist auch, wie nahtlos Hardouze zwischen Realismus und märchenhaften Stimmungen im Wald wechseln kann. Dort findet Anna ein kleines Mädchen, das eher eine mythische Figur ist und für eine überraschende Auflösung des Coming-of-Age-Dramas sorgt.
Gedreht bei 700 Mennoniten
Der Grund, aus dem die Doku „Ohne diese Welt“ von Nora Fingscheidt in der Programmschiene „Heimspiel“ läuft, ist etwas fadenscheinig. Es reicht, dass die Regisseurin in Braunschweig aufgewachsen ist und ihre Eltern noch dort leben. Ansonsten ist der Film weder in Niedersachsen gefördert noch produziert worden. Gedreht wurde stattdessen in Argentinien. Trotzdem: Dieser Film zählt zu den Höhepunkten des Festivals.
Im Frühjahr wurde er in Saarbrücken mit dem Max Ophüls Preis ausgezeichnet. Fingscheidt gelang es, ihren Film bei einer 700-köpfigen Kolonie von Mennoniten zu drehen, also in einer Welt, in der moderne Technik verboten ist. Die Mennoniten sprechen ein Deutsch aus dem 19. Jahrhundert, das untertitelt werden musste, und sie leben streng nach ihrer eigenen Auslegung der Gebote der Bibel.
Autos sind verboten, ebenso alle Spieldinge wie Radio, Fernsehen und Telefon. Mit sogenannten Weltmenschen, also allen anderen, haben sie so wenig Kontakt wie möglich. Umso erstaunlicher, dass Fingscheidt nicht nur lange bei ihnen drehen durfte, sondern ihnen auch mit der Kamera erstaunlich nah kommt.
Das Vertrauen, das die Gemeindemitglieder ihr entgegenbrachten, wurde nicht enttäuscht, denn Fingscheidt führt sie nie vor. Sie will wirklich verstehen, was diese Menschen dazu bringt, solch ein hartes und radikales Leben zu führen. Es gelingt ihr, die richtigen Fragen zu stellen und den Menschen die Scheu vor der Kamera zu nehmen. Ein außergewöhnlicher, schöner und sehr menschlicher Film.
Internationales Filmfest Braunschweig: 17. bis 22. Oktober. Programm gibt es auf www.filmfest.braunschweig.de
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