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randale beim g20-gipfelGewaltfrei ist stärker

Im Rechtsstaat darf nur die Polizei unmittelbaren Zwang anwenden. Was aber ist, wenn Ungerechtigkeit und Brutalität ganz legal sind?

Houssam Hamade

Jahrgang 1973, geboren in Beirut, schreibt als freier Autor für verschiedene Zeitungen über Rassismus, Liebe und Kapitalismuskritik. Mehr von ihm unter Houssamhamade.net

Die Debatte über die Krawalle in Hamburg war heftig, aber kurz. Dabei ist die wohl wichtigste Frage noch nicht ausreichend diskutiert worden: Waren die Krawalle wirklich falsch? Den Reaktionen nach könnte man meinen, die Deutschen seien allesamt radikale Pazifisten geworden. Es ist es aber einfach, gegen Gewalt zu sein, wenn man keine Notwendigkeit dafür spürt. Sobald wir direkt von großer Ungerechtigkeit betroffen sind, ändert sich die vormals pazifistische Haltung schnell.

Vergangene Woche klopfte beispielsweise ein freundlich lächelnder Herr an unserem Berliner Mietshaus an und erklärte, dass unsere Wohnungen verkauft würden. Da diese schon lange in Eigentumswohnungen umgewandelt worden sind, scheint das für mich zu heißen, dass ich innerhalb eines halben Jahres ganz legal gekündigt werden kann. Nach 15 Jahren, in denen diese Bleibe ein Hort der Sicherheit für mich war, könnte ich auf den ätzenden Berliner Wohnungsmarkt gezwungen werden. Besonders wütend macht mich dabei meine Ohnmacht.

In den letzten, unruhigen Nächten habe ich davon fantasiert, dem Immobilienhai zu drohen, sein Auto anzuzünden, seine (völlig unschuldige) Katze an dessen Haustür zu nageln. Schon klar, dass das völlig überzogen wäre, aber konfrontiert mit großer Ungerechtigkeit taucht bei vielen von uns der Wunsch auf, die Dinge in die eigenen Fäuste zu nehmen. Es würde bestimmt funktionieren: Die meisten geben nach, wenn ihnen ernsthaft gedroht wird.

Vielleicht heuert mein Immobilienhai aber auch einen Schlägertrupp an, professionelle Gewalttäter. Nach der von mir geführten Logik wäre diese Gewalt ja genauso gerechtfertigt. Gewalt ist ansteckend und kann sich schnell vom Steinwurf zu einem tosenden Feuer entwickeln, wie wir gerade in Syrien sehen können. Gewalt überzeugt nicht, sondern schüchtert ein oder überwältigt.

Das ist das Schlaue am rechtsstaatlichen Prinzip: Nur die Polizei darf Gewalt anwenden, und diese Gewalt wird (in der Theorie) streng überwacht und muss sich an die eigenen Regeln halten. Die Polizei darf Gewalt anwenden, damit wir es nicht müssen.

Die Steinewerfer von Hamburg mussten allerdings selbst erleben, wie die Polizei massenhaft diese Regeln gebrochen hat. Und wichtiger: Was ist, wenn Ungerechtigkeit und Brutalität ganz legal sind? Wenn beispielsweise Menschen sich ihr Leben lang krank gearbeitet haben und sich doch an an ihrem Lebensabend keinen Kinobesuch oder ordentliche Zähne leisten können. „Welcome to Hell“ hieß die berüchtigte Demo von Hamburg. Der Name passt. Die neoliberale Politik der G20 begünstigt systematische Gewalt in riesenhaften Maßstäben. Sie verhindert nicht, dass reiche Firmen Zulieferer wählen, die ihre Waren unter grausamen Bedingungen in Sweatshops herstellen. Arme Länder werden gezwungen, ihre Märkte für subventionierte Waren zu öffnen, während die eigenen Märkte durch Zölle abgesichert werden.

800 Millionen Menschen hungern, obwohl das ein sehr leicht zu behebendes Problem ist, wäre nur der Wille da. Unsere Kinder könnten aufgrund der herrschenden Politik eine Welt erben voller „Hunger, Stürme, Kriege und einer Sonne, die uns kocht“, wie es der Journalist David Wallace-Wells in einem einflussreichen Artikel im New York Magazine zugespitzt formulierte. Und wenn wir zugeben, dass Gewalt gerechtfertigt ist, um ex­treme Bedrohungen abzuwehren, dann ist spätestens hier Gewalt gerechtfertigt.

Allerdings ist Notwehr nur sinnvoll, wenn damit die Gefahr tatsächlich abgewehrt werden kann. Selbstverständlich gibt es Fälle in der Geschichte, in denen Gewalt richtig und wichtig war – und ist. Die Nazis ließen sich nur durch Gewalt beeindrucken und die Tutsi in Ruanda hätten die mordenden Mobs der Hutu kaum mithilfe von Sitzblockaden abwehren können. Ein Gewehr ist ein stärkeres Druckmittel als ein gutes Wort. Genau von dieser „realistischen“ Annahme ging die Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth aus.

Aber sie wollte es genauer wissen und verglich gemeinsam mit der Politikwissenschaftlerin Maria J. Stephan statistisch Kämpfe zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren im Zeitraum von 1900 bis 2006. Das ist nachzulesen im preisgekrönten Buch „Why Civil Resistance Works“. Es stellt sich heraus, dass militanter Widerstand in 26 Prozent der Fälle erfolgreich war. Gewaltfreie siegten dagegen in 53 Prozent der Fälle. Selbst im Kampf gegen brutale Regime wie in Osttimor oder gegen den Diktator Marcos auf den Philippinen war gewaltfreier Widerstand wirksam. Allerdings heißt gewaltfreier Widerstand mehr als nur die Teilnahme an einer fröhlichen Demo. Gewaltfreier Widerstand beinhaltet Boykotts, laute Proteste, Streiks, Blockaden und organisierte Nichtkooperation.

Gewaltfreier Widerstand ist mehr als nur die Teilnahme an einer fröhlichen Demonstration

Diese Mittel sind laut Chenoweth darum so mächtig, weil sie viel eher dazu geeignet seien, große Teile der Bevölkerung sowie internationale Akteure auf die eigene Seite zu ziehen. Reagiert der Staat brutal gegen gewaltfreie Akteure, kann das schnell für ihn nach hinten losgehen. Die Widerständler bekommen dann zunehmend Beistand. Sogar innerhalb der Polizei und des Militärs kann es zu Loyalitätsverschiebungen kommen. Und genau das funktioniert: Der Gegner wird delegitimiert, weil eindeutig ist, dass er sich falsch verhält. Der „moral highground“, die moralische Überlegenheit, ist ein unverzichtbares Element in politischen Konflikten.

Der Rechten dient die Gewalt der Antifa als Geschenk, wie es auch Noam Chomsky neulich in einem Interview erklärte. Dem Staat dienen militante Aktionen als Grundlage für Hetze und autoritäre Maßnahmen. Nicht umsonst setzte Innenminister de Maizière mit Freude linksradikale Steinewerfer mit den totalitären Massenmördern des IS gleich.

Mindestens darum waren die Krawalle in Hamburg falsch. Deutlich wirkungsvoller ist: blockieren, streiken, protestieren und breiten Teilen der Bevölkerung zeigen, wie gewalttätig und dumm die neoliberale Politik der G20 ist.

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