Liebe für Idioten

Eine Autofahrt von Hannover nach Bielefeld und zurück, im Kassettenrecorder läuft Gun Club, „Idiot Waltz“. „Der Romantiker kann vom Idiotenwalzer nicht genug kriegen“, sagte Karoline. Ich sagte: „Immerhin ist es ein Walzer im Viervierteltakt. Verletzung der Spielregeln.“ Eine Geschichte von Dietrich zur Nedden

Unterwegs mit Karoline, unterwegs nach Bielefeld: Wir beide in ihrem beinahe ferrariroten Fiat 128. Kursierte damals schon dieser alberne Zweizeiler? „Und seh‘n wir uns nicht in dieser Welt, dann seh‘n wir uns in Bielefeld.“ Ich weiß es nicht. Die Verse hätten das Spiegelbild einer umgekehrten Realitätsperspektive umrahmen können, den Fluchtpunkt einer unterirdischen, einer metaphysischen Konstellation – was immer das bedeuten mag –, wenn, ja wenn das Konzert, dem wir zusteuerten, eines von Gun Club gewesen wäre. Und angekündigt nicht im PC 69, sondern im CP 96. Unser Ausflug hätte im Übrigen von Weitsicht gezeugt, denn Jeffrey Lee Pierce, der Frontmann der Band, starb wenige Jahre später, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben ... nein, Unsinn. Ohne in der Zwischenzeit noch mal durch Deutschland getourt zu sein.

Ein Auftritt der Violent Femmes war unser Ziel, Gun Club begleitete uns auf der Hinfahrt, als ich eine Kassette in den Bordrecorder schob, die ich aus dem Sammelsurium vor dem Beifahrersitz geangelt hatte. Nur die A-Seite war beschriftet, ein Gun Club-Bootleg war darauf kopiert. „How Lucky You Are John“. Sobald die letzten Akkorde des „Idiot Waltz“ in den zauberhaft außerweltlichen Abendhimmel vor uns im Westen gedriftet waren – durchs offene Schiebedach?! –, spulte ich die Kassette zurück, um den Song ein weiteres Mal laufen zu lassen. Jeffrey Lee Pierce flanierte durch die ersten Takte: „That line don‘t make it here no more / nothing reanimates the old times / black clouds to the west / darkness coming from the East Side.“ „Der Romantiker kann vom Idiotenwalzer nicht genug kriegen“, sagte Karoline. Spott war es, kein Protest, kein Einwand. Ich sagte: „Immerhin ist es ein Walzer im Viervierteltakt. Verletzung der Spielregeln.“

Blassrosa Streifen am Horizont, dunkle Wolken nicht in Sicht. Um meine sinnlose Replik zu löschen, klaubte ich was aus unverfänglichen Regionen hervor, das sich so anfühlte wie ein Gedanke. „Glaubst du nicht auch, dass dieses Hin und Her, das Spulen vor und zurück ein Prozedere ist, das in absehbarer Zeit nur noch Kulturarchäologen geläufig sein wird?“

„Dazu braucht man kein Prophet zu sein“, sagte sie und warf hastige Blicke in den Rückspiegel, weil ein Benz drängelte. Ich blieb ruhig und wurde ausführlich: „Es geht um die Dauer. Vor- und Rücklauf dauern, brauchen Zeit, verbrauchen Zeit. Es ist eine Unterbrechung, eine Pause. Eine Unterbrechung bedeutet eine Leerstelle. Viele Leute finden Leerstellen unerträglich und das ist ein ...“

„Und viele Leute kriegen gar keine Lehrstelle, das sollte ein Philosoph wie du auch in diesem Zusammenhang berücksichtigen“, unterbrach mich Karoline. Wie ich es liebte, wenn sie mir eine reinsemmelte. Ich ließ mich nicht beirren.

„Wann die Unterbrechung endet, lässt sich nicht präzise bestimmen. Man trifft so gut wie nie exakt die Pause zwischen zwei Songs, klar. Im Gegensatz zum punktgenauen Sprung der Skip-Taste am CD-Spieler. Spart Zeit, beschleunigt. Das Ungefähre, der Zufall, damit muss man beim Spulen einer Kassette rechnen.“

„Und bei den CDs wird der Zufall eliminiert“, stieg sie unvermutet ein, als sei sie der Attacken überdrüssig, „so restlos, dass man die Random-Taste programmiert hat. Als ob man dem Zufall Respekt zollen wollte.“ Dann scherte sie aus nach rechts, drosselte das Tempo, während Pierce die letzte Zeile des Refrains synkopisch beschleunigte: „Turn on the headlights / for the Idiot Waltz / turn on the lights / watch us fall.“

Endstation der Anreise: Die Violent Femmes, Synthese aus Kargheit und Opulenz, wechselten die Geschwindigkeiten, Schaukeln der Stimmungen, „Blister in the Sun“ und „It‘s gonna rain“, hin und her: Jammern, Wut, höhnisches Grinsen.

Auf der Rückfahrt drehte ich die Kassette um, verdoppelte die Richtungsumkehr gewissermaßen, die B-Seite war unbeschriftet. Arrangiert von einem Zufallsgenerator kamen ein paar Stücke von Dylans „Blood On The Tracks“. Auf dem Album ist „Idiot Wind“, ein Song, den ich vorher noch nie gehört hatte, da war ich mir sicher. Mit Dylan konnte ich nichts anfangen. Dass mir ein paar Zeilen daraus vertraut waren, damit hatte ich nicht gerechnet. Sie hatten sich eingeprägt, weil Van Morrison sie auf einem Live- Mitschnitt als Intro ohne Quellenangabe zitiert, also für meine Ohren quasi aus der Mitte des Nichts ins Mikro brummt: „What‘s good is bad / what‘s bad is good / you‘ll find out / when you reach the top / You‘re at the bottom.“ Auf der dunkelheitssatten, weil ungewöhnlich spärlich befahrenen A 2 passierten wir in diesem Moment die Abfahrt nach Herford, Detmold und anderen ostwestfälischen Siedlungen. Ob sie wisse, fragte ich, dass die in Detmold stationierten englischen Soldaten die Stadt scherzhaft Wetmould nennen?

An diesem Abend schien wirklich alles – außer unseren Beiträgen – harmonisch aufeinander abgestimmt zu sein, sich ergänzen zu wollen, jedenfalls prallten die ersten Regentropfen auf die Windschutzscheibe. Ob ich nicht wisse, gab Karoline zurück, dass sie mal in Detmold in dem seinerzeit schwer angesagten Schuppen Hanky Panky gekellnert habe? „Nö.“

Mit ihrer Kollegin Sabine, ehemalige Anglistikstudentin, habe sie eine Art interne Kategorisierung der andersgeschlechtlichen Gäste verabredet. Wenn eine von beiden nicht abgeneigt war, mit einem Gast, der Signale der Verehrung sendete, nach Geschäftsschluss ausführliche Körperkontakte zu riskieren, gab die andere früh genug ihre Einschätzung kund, im Vorbeigehen, nämlich ob es sich in ihren Augen um einen man of mould oder man of gold oder man of soul handele.

„Wie raffiniert“, sagte ich und verschwieg, dass ich bis jetzt davon ausgegangen war, in der Verballhornung des Stadtnamens sei nur die erste Silbe wet ein – auch ich hab studiert! – Sinn tragendes Element. Die Vokabel mould kannte ich nicht. Später bot mir der kleine Muret-Sanders mehrere Übersetzungen an, Schimmel und Moder und die lockere Erde, die Ackerkrume und den Humus. Am Ende des Eintrags war noch der man of mould aufgeführt, der Erdenkloß, der Sterbliche.

Ich hätte mich um weitere Erkenntnisse bemühen, Differenzen ausloten können, welche Bedeutung von mould die uniformierten Tommies im Namen Detmold gespiegelt sehen, verzichtete aber darauf genauso wie jetzt auf die Frage an Karoline, welche Bedeutung sie und ihre Freundin in ihrem Klassifizierungsritual gemeint hatten.

Rechts ein Schild, darauf die Silhouette eines Bären, Relikt der Einheitsbeschwörung: „Berlin 328 Kilometer“. Das ging uns nichts an, uns reichte Hannover.

Karoline war nun ein bisschen nach Plaudern zumute, sie erzählte von einem Typen, der kurz vor Feierabend an der Theke gestanden hatte. Er trank Kaffee, weil er seine beiden Kumpel nach Hause chauffieren musste. Sie habe ihn nett gefunden, sympathisch, durchaus mit Perspektive, man of soul, was Sabine bestätigt hatte.

„Bis sich einer seiner Freunde sturztrunken neben ihn drängelt und zu mir irgend so was sagt wie, ob ich nicht seinen Kolben ölen würde. Das ist dem Netten so dermaßen peinlich gewesen, der hat sich so geniert, dass er bloß noch eine Entschuldigung gestammelt und seine Kumpel eingesammelt hat – und weg.“

Inzwischen schüttete es wie aus Kübeln, die dazugehörige Gegend hatten wir hinter uns gelassen. Die Kassette aber gerierte sich als Soundtracklieferant, als Dylan von den „buckets of rain“ sang, zu denen er sofort „buckets of tears“ assoziiert, was sonst? Ich lächelte, als nächste Stufe wäre ein Grinsen, dann ein Lacher zu erwarten gewesen, wenn ich nicht einen Blick zur Seite geworfen hätte, der auf eine Träne traf, eine einzige, einsame, die sich in dieser Sekunde kristallin in die Kurve ihres Nasenflügels legte. Nächste Ausfahrt Bad Kreiensen. Ich hütete mich, die Klangspielereien fortzusetzen, Karo auch nur darauf hinzuweisen. „Friends will arrive, friends will disappear.“ Was steht, das steht, wir mussten weiter. „Little red wagon / little red bike / I ain‘t no monkey baby but I know what I like.“ Und ab bei Bad Nenndorf, B 65 ostwärts. Den Abzweig nach Winninghausen ließen wir unbeachtet.

Karoline setzte mich zuhause ab. Das letzte Bild dieser Nacht, als sie weiter fuhr: Rostrote Flecken auf der beinahe ferrariroten Karosserie, stumpfes Leuchten der Rücklichter, der zerbeulte goldgelbe Mondgong überm Geflecht eines Baumwipfels.

Einige Tage danach, eine Hitzewelle war angerollt, geriet mir die Kritik eines Violent Femmes-Konzerts in die Finger. Als ich Karoline anrief, las ich ihr daraus vor. Vom Spannunsgsaufbau „durch das intelligente Platzieren von Leerstellen“ war die Rede, von einem Schema, „das scheinbar unendlich variiert werden kann, ohne sich abzunutzen“. „Wie findest du das?“, fragte ich.

Sie sagte nichts zunächst, dann sagte sie wie aus weiter Ferne: „ ... ohne sich abzunutzen. Wer‘s glaubt.“