„Die Revolution war erstaunlich breit und vielfältig“

FUNKEN IM PULVERFASS Der 9. November 1989 war nur der emotionale Höhepunkt. Entscheidender für die Revolution in der DDR waren die Ereignisse zwischen Mai und Oktober 1989, erläutert der Historiker Wolfgang Schuller in seinem neuen Buch

ist Jurist und Historiker. Seit seiner Dissertation über das politische Strafrecht in der DDR beschäftigte sich der mittlerweile emeritierte Professor für Alte Geschichte immer wieder mit dem Verhältnis BRD/DDR. Foto: Archiv

taz: Herr Schuller, inwiefern ist es gerechtfertigt, die Ereignisse des Jahres 1989 als Revolution zu bezeichnen?

Wolfgang Schuller: Ohne dass ich mich dabei an einer klassischen Definition abgearbeitet hätte, entspricht die Abfolge der Ereignisse denen einer Revolution. Von der geistigen Vorbereitung, dem angestauten Unmut über die Starre und die verzögerten Reaktionen der Machthaber, den Funken im Pulverfass bis hin zu Teilhabe und Sieg der Revolution.

Das alles findet sich zwischen Sommer 1989 und dem 3. Oktober 1990. Manche sprechen auch von Herbstrevolution, das mildert die Sache aber nur etwas ab.

Welches waren die zentralen Wendepunkte, die zur Revolution führten?

Für die Vorgeschichte war sicherlich der 6. Mai 1989 mit den gefälschten Kommunalwahlen zentral. Erstmals gab es massiven Protest mit Namen und Adressen als Zeichen dafür, dass die Menschen keine Angst mehr hatten. Im Herbst selbst war es dann der 7. Oktober, der Tag der abenteuerlichen 40-Jahr-Feier der DDR. Während die Staatsmacht in Berlin und Leipzig noch mit voller Brutalität gegen Demonstranten vorging, kam es gleichzeitig in Plauen zu einer ersten freien Demonstration, vor der die Staatsmacht zurückwich, mit über 15.000 Teilnehmern. Am Tag darauf in Dresden und zwei Tage später in Leipzig geschah das erstmals auch. Bis heute erinnern wir uns an den gewaltfreien Zug der 70.000 Menschen in Leipzig, aber in Plauen fand dies schon zwei Tage früher statt.

Neben dem Mauerfall am 9. November war es dann die Aufdeckung und Diskussion der Korruptionsfälle vieler Funktionäre sowie ab dem 4. Dezember die Besetzung der Stasi-Dienststellen, die den revolutionären Prozess voranbrachten. Fast gleichzeitig wurden auch die runden Tische als Institutionen der Revolution begründet.

Welchen Stellenwert hat in dieser Abfolge der 9. November?

Der Mauerfall lag letztlich in der Konsequenz der vorangegangenen Entwicklung. Insofern kam er nicht überraschend, aber er war sicherlich das emotional herausragende und spektakulärste Ereignis.

Ab wann war die Revolution entschieden?

Das Gefühl, dass es nicht mehr zurückgehen kann, hatten viele erst am Tag der Wiedervereinigung. Der Sache nach war die Revolution aber mit den freien Volkskammerwahlen im März 1990 entschieden.

Gab es konterrevolutionäre Versuche der SED?

Vor allem bei der großen SED-Demonstration am 15. Januar 1990, die sich vordergründig gegen neonazistische Gefahren wandte, war der Ton der Reden der von früher. Dies führte auch zu einem Wiederaufflammen der revolutionären Demonstrationen.

Die Gruppen der Bürgerbewegung wurden wesentlich von intellektuellen Kreisen getragen. Waren diese auch die Träger der Revolution?

Sie haben politisch den Boden bereitet. Die eigentlichen Träger der Demonstrationen und Aktionen wurden aber die Durchschnittsbürger der DDR. Letztlich waren es also beide, Bürgerrechtler und Durchschnittsbürger. Letztere wollten jedoch keine Basisdemokratie, sondern Parlamentarismus und Wiedervereinigung. Damit standen sie inhaltlich gegen die Bürgerrechtler, so dass diese in der Konsequenz die Wahlen verloren. Nur auf kommunaler Ebene erhielten Bürgerrechtler wichtige Stellungen.

Allgemein gilt Leipzig als Stadt der Revolution. Stimmt dieses Bild?

Zum Teil ja, denn dort waren die größten Demonstrationen, von dort berichteten die Medien. Aber die erste Stadt mit freien Demonstrationen war Plauen und insgesamt war die Revolution durch ihre erstaunliche Breite und Vielfalt geprägt. Allein bis zum 9. November wurden Demonstrationen in über 325 Orten in der gesamten DDR gezählt, in kleinen und kleinsten Städten. Die Revolution fand überall im Lande statt.

INTERVIEW:
ARMIN MÜLLER

Wolfgang Schuller: „Die deutsche Revolution 1989“. Rowohlt, Berlin 2009, 384 S., 19,90 Euro