Aus antideutscher Hauskapelle wird gehypte Jugendkultur: Egotronic bleibt wütend: Plötzlich raven alle gegen Deutschland
Popmusik und Eigensinn
von Jan-Paul Koopmann
Wie das passieren konnte, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben: Da ist diese Band mit schrabbeliger Electromusik und politischen Texten, irgendwie Punk, irgendwie was ganz anderes. Und die Leute, die’s im Jugendzentrum hören, sind so ein paar Autonome, die über den nach 9/11 nicht mehr übersehbaren Antisemitismus der Linken ins Denken kommen. Damals waren diese Antideutschen eine verschwindend geringe Minderheit innerhalb der ohnehin schon marginalisierten Linken. Und ein paar Jahre später dann das: Hartnäckig ignoriert von der Popmaschine sind Egotronic und ihr Label Audiolith plötzlich das Ding, machen im letzten Kaff noch die Konzerthäuser voll und Musikjournalisten ratlos: „Raven gegen Deutschland“ brüllt ein immer jüngeres Publikum und tanzt sich auf Pillen in Extase, als wär’wieder 1991.
Die Politik ist nicht raus, Egotronic agitiert weiter: Zunächst gegen ökolinke Regression beim Castor („Heimatschutzbund Anticastorbewegung“), mit Wolfgang Pohrt und Bahamas-Lektüre im Kopf. Aber auch auf der Straße: Egotronic-Freund und -biograf Daniel Kulla beschreibt in seinem Buch „Raven wegen Deutschland“ eine Szene vom Dresdener Naziaufmarsch 2005: Eine Handvoll Antifas verteidigt die Synagoge gegen Nazis, keine Polizei in Sicht. Und mittendrin spielen Egotronic.
Den Antisemitismus haben die Antideutschen zumindest aus dem Mainstream der jungen Linken gedrängt. Israel-Buttons gehören heute zum Repertoire einer Szene, in der man dafür vor ein paar Jahren noch auf die Fresse bekommen hat. Die Bewegung hat sich zerfasert, Egotronic sind noch da. „Keine Argumente“ heißt das aktuelle Album und so hakelig getextet wie früher geht es jetzt in die Konflikte von heute. Und der Ton ist nach ein paar Jahren Party wieder härter geworden: „Doch benennt man es beim Namen, was passiert ist Rassismus / Sagt der Deutsche lediglich: Das ist die Antwort auf Sexismus / Wenn die Antwort auf so Scheiße, in sich selbst komplette Scheiße ist / Dann kümmer’ich mich drum, dass der Rassist auch seine Scheiße frisst.“
Getanzt wird trotzdem noch. Und obwohl man sich da mit Mitte 30 schon etwas alt fühlen kann zwischen den Kids, dann macht’s die Welt für einen Abend trotzdem ganz hübsch. Und die zwei Tage Kopfschmerzen ist das schon wert.
Egotronic und Clastah, Donnerstag, 5. 10., 20 Uhr, Tower
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