„Die Sachsen waren nicht so empört“

Der Osten lebt. Zwar geht es denen im Süden besser als denen im Norden. Aber die Angst vor sozialer Deklassierung sind viel größer als im Westen. Stoiber hat mit seinen ossifeindlichen Äußerungen der Linkspartei sehr geholfen

taz: Herr Schöppner, am Sonntag sind Wahlen und alles starrt auf den Osten? Gibt es den Osten überhaupt noch?

Klaus-Peter Schöppner: Ja, natürlich existiert der Osten noch. Zwar gibt es auch dort regionale Unterschiede. Aber eine andere Mentalitätslage und erhöhte Sorgenpotenziale im Vergleich zum Westen sind noch immer Kennzeichen für die neuen Bundesländer.

Wir haben im Westen etwa 80 Prozent Bürger, die eine allgemeine Angst vor ihrer Zukunft aufweisen. So eine hohe Quote hatten wir schon seit 30 Jahren nicht mehr. Diese wird im Osten aber sogar noch mit 85 bis 86 Prozent getoppt. Im Westen haben etwa ein Drittel der Beschäftigten Angst davor, ihren Job zu verlieren, im Osten wurde sogar jetzt die 50-Prozent-Marke übersprungen. Also, es gibt den Osten noch. Auch die Kirchhof-Angst ist dort größer.

Die Kirchhof-Angst?

Es gibt im Westen wie im Osten die weit verbreitete Wahrnehmung, dass die Union die größere Kompetenz bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hat, ihr traut man auch eher zu, dass sie die Wirtschaft wieder in Schwung bringt. Aber die Angst, dass dies mit sozialer Deklassierung einhergeht, ist im Osten weitaus größer als im Westen. Dort vertraut man noch auf die Selbstheilungskräfte der sozialen Marktwirtschaft.

Der Osten ist also in Angst vereint. Wie kam es, dass die ossifeindlichen Äußerungen aus den Unionsparteien so unterschiedlich angekommen sind?

Im Osten kann man ein Süd-Nord-Gefälle feststellen. In Mecklenburg-Vorpommern liegt die SPD nach neuesten Umfragen beispielsweise bei 30, in Sachsen nicht weit über 10 Prozent. Die Sachsen gelten von den Ostdeutschen noch als ziemlich selbstbewusst. Daher wurden Stoibers Äußerungen beispielsweise von den Leuten, denen es relativ gut geht, natürlich lange nicht so empört aufgenommen wie von Wende-Verlierern. In Sachsen, das sich seit der Wende an Bayern orientiert und wo es zwischen beiden Ländern einen regen Austausch beispielsweise von Beamten gab, erkennt man wahrscheinlich auch eine Kernwahrheit in den Äußerungen aus der Union an. Im Großen und Ganzen aber haben diese Äußerungen der Konservativen die Ost-Homogenität wieder gestärkt.

Die CDU stärkt die Ost-Identität?

Es gibt bei den Ostdeutschen natürlich Tendenzen zur Diversifizierung. Aber Stoiber hat die Ostdeutschen wieder zusammengeschweißt. Für eine innere Vereinigung Deutschlands ist das natürlich bedauerlich, denn dafür muss diese Ost-Identität aufgeweicht werden.

Heißt das, dass im Wahlverhalten zwischen Kap Arkona und Fichtelberg keine Unterschiede auszumachen sein werden? Drückt sich die soziale Aufsplitterung des Ostens nicht im Wahlverhalten aus?

Doch, ich hatte schon gesagt, dass die SPD in Schwerin beispielsweise einen viel besseren Stand hat als in Dresden, obwohl sie dort überall mitregiert. Auch für Angela Merkel tun sich große Unterschiede auf. Sie wird von den Ostdeutschen nicht als Ostdeutsche wahrgenommen, auch wenn ihr zugestanden wird, dass sie die Probleme des Ostens durchaus besser kennt. Damit hat man in ihrer Heimat in Mecklenburg und im prosperierenden Sachsen weniger ein Problem als in Brandenburg und Berlin.

Wenn Sie sagen, dass der Osten wieder stärker zur Homogenität neigt – wie wirkt sich das politisch aus?

In einer hohen Zustimmung für die Linkspartei, und dafür gibt es hauptsächlich zwei Gründe. Zum einen verstehen viele im Osten die Kritik aus dem Westen nicht. Schließlich haben sich viele Ostdeutsche bewegt, waren flexibel, haben ihre Arbeit verloren, sich um neue bemüht und teilweise auch gefunden. Sie sind oftmals weit weggezogen oder pendeln viele Kilometer am Tag. Wenn da noch aus dem Westen kommt, der Ossi solle sich endlich mal bewegen, dann wird das rundweg abgelehnt.

Aber die Vorstellungen von Gysi und Lafontaine gelten weithin als unrealistisch.

Hier kommen wir zum zweiten Punkt. Im Osten ist für viele Menschen die Marktwirtschaft diskreditiert, sie haben kein Vertrauen mehr in dieses Wirtschaftssystem. Fünfzehn Jahre haben sie investiert, und spürbare Verbesserungen sind für viele nicht eingetreten. Egal wie realistisch die Forderungen der PDS sind, die Partei kritisiert als einzige das marktwirtschaftliche System in ihren Grundfesten. Im Osten wird also nicht Protest gewählt, sondern gegen eine Wirtschaftsform, die in den Augen vieler versagt hat.

Wie wird denn der Osten am Sonntag wählen?

Wir können durch Umfragen nur eine Diagnose erstellen und keine Prognose. Unsere letzten Daten sind eine Woche alt, laut denen wird die SPD vor der Union und der Linkspartei stärkste Partei. INTERVIEW: DANIEL SCHULZ