Darf Kreuzberg Jamaika verhindern?

Koalition Die Grünen sollen kein Bündnis mit CDU/CSU und FDP im Bund eingehen, sagt Canan Bayram und spricht von einer „Zerreißprobe“. Doch es gibt derzeit keine Alternativen. Hat die neue Bundestagsabgeordnete trotzdem recht? Ein Pro und Contra

Rote Karte für Jamaika: Canan Bayram auf einer Veranstaltung, neben ihr Hans-Christian Ströbele, auch kein Jamaika-Fan Foto: Stefan Boness/IPON

Die Grünen-Direktkandidatin Canan Bayram hat den Wahlkreis 83 Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost mit 26,3 Prozent gewonnen. Pascal Meiser (Linke) bekam 24,9 Prozent der Stimmen, Cansel Kiziltepe (SPD) 16,9 Prozent. Die Grünen gewinnen in Kreuzberg seit 2002 ihr bislang einziges Direktmandat im Bund.

Die Linke wurde im Wahlkreis stärkste Kraft bei den Zweitstimmen und bekam 28,6 Prozent vor den Grünen mit 20,4 Prozent und der SPD mit 15,9 Prozent. Im Vergleich zu der letzten Bundestagswahl legte die Linke um 3,5 Prozentpunkte zu. Die Grünen und die CDU verloren leicht (-0,3 und -1,5), die SPD deutlich (-8,1 Prozentpunkte). (akl)

PRO

Ja, sagt Bert Schulz

Demokratie in der Bundesrepublik lebt von Kompromissen. Erst kämpfen die Parteien hart gegeneinander und grenzen sich ab; nach der Wahl wird dann geschaut, wie das dennoch zusammenpasst. Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Die Demokratie lebt genauso stark davon, Kompromisse auszuschließen. Indem man etwa sagt, mit der AfD gebe es keine Koalition. Oder wenn die SPD sich bastamäßig in die Opposition verabschiedet. Wenn eine Partei also Unmöglichkeiten definiert.

Ihre Grenzen festzuschreiben ist elementar für Parteien wie für ihre Wähler. Dass SPD und CDU am Sonntag so stark verloren haben, liegt auch daran, dass ihre eigenen Positionen oft kaum mehr abzugrenzen waren von denen anderer Parteien. Nach dem Erfolg der AfD wollen nun alle ihr Profil schärfen; die CSU kündigt an, ihre „rechte Flanke“ besser decken zu wollen. Sprich: der AfD nachzueifern.

Angesichts dieser Gemengelage kann Canan Bayram gar nicht anders, als eine Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, FDP und ihren Grünen auszuschließen. Die in Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg-Ost am Sonntag direkt gewählte Abgeordnete hat diese Position vor der Wahl vertreten, und es ist mehr als eine Glaubwürdigkeitsfrage, es weiterhin zu tun.

Denn wer wie Bayram in Friedrichshain-Kreuzberg gegen eine starke linke Konkurrenz gewählt wird, siegt nicht, weil sie oder er die schnellste oder pragmatischste Lösung für ein Problem anstrebt, sondern die gerechteste und ausgewogenste, für die es auch ein bisschen länger dauern darf. Weil die Wähler wissen, dass die Welt nicht so einfach ist, wie es Union, FDP und auch SPD darzustellen versuchen.

Bayram sollte offensiv dafür werben, dass ihre Position im Landesverband keine Einzelmeinung bleibt. Die Berliner Grünen sind eine Großstadtpartei, die davon lebt, sich mit urbanen Themen zu profilieren: lebenswerte Stadt, Verkehr, Toleranz, Menschlichkeit, Integration. Grüne wie sie brauchen keinen Brückenschlag ins wertkonservative Lager, das in Städten konstant an Relevanz verliert, sondern perspektivisch Partner, die nicht krampfhaft am Vergangenen festhalten.

Eine Jamaika-Koalition wäre kein progressives Projekt, sondern ein Schritt zurück ins 20. Jahrhundert. Es will sich doch niemand vorstellen, wie eine gemeinsame Presseerklärung der Grünen und der CSU zur Integration von Flüchtlingen aussehen würde oder ein gemeinsamer Auftritt zum Umgang mit Hartz-IV-Empfängern mit der FDP. Das Anbändeln der Grünen mit einer nach rechts rutschenden Union und den Neoliberalen wäre verheerend. Jamaika würde die Linkspartei auf Kosten der Grünen noch stärker machen, als sie ohnehin schon geworden ist, auch in Friedrichshain-Kreuzberg.

Was die Regierungsbildung angeht, sind längst nicht alle Optionen auf dem Tisch; Jamaika ist nicht die einzige Lösung. Auch den Grünen muss man zugestehen, Nein sagen zu dürfen, auch wenn die SPD diesmal damit schneller war.

CONTRA

Nein, sagt Stefan Alberti

Jamaika nicht mit mir, nicht mit uns? Canan Bayram und die Kreuzberger Grünen können es sich nicht guten Gewissens leisten, eine Koalition mit der Union und der FDP zu torpedieren und für ein Nein zu werben, wenn die Grünen bundesweit darüber abstimmen. Guten Gewissens? Ja, es ist eine Gewissensfrage: Jamaika oder möglicherweise Neuwahlen mit einer dann noch stärkeren AfD. Warum stärker? Weil die Rechtspopulisten dann noch mehr damit werben können, die etablierten Parteien bekämen es nicht hin.

Es gibt das kleine Kreuzberg, den linksgrünen Wohlfühlkosmos, und es gibt das große Ganze. Da kann man natürlich sagen: Was östlich vom Kottbusser Damm und westlich der S-Bahn-Gleise ist, interessiert uns nicht, das ist quasi Ausland und da wollen wir ja sowieso keine Einsätze. Kann man theoretisch. Kann man aber nicht wirklich, wenn man auch nur ein bisschen den Anspruch erheben will, über den eigenen Tellerrand zu gucken. Schon 2013 hatten die Grünen die Chance, das Land vier Jahre lang mitzugestalten, hielten es aber allen Ernstes für besser, das allein CDU und SPD zu überlassen. Wenn denn Union und FDP so schlimm sind und die Sozis nicht viel besser, wo ist da die Logik, nicht selbst mitmachen zu wollen, und zwar besser?

Bayram hat in dieser Thematik bereits mit ihren Wählern argumentiert, denen sie verpflichtet sei. Das mag sie so sehen. Grundgesetzlich aber ist sie nur einer Sache verpflichtet: ihrem Gewissen. Und wenn sie und andere Grüne nicht auf diesem Gewissen haben wollen, dass Neuwahlen die AfD noch stärker machen, dann können sie sich einer Koalition schlicht nicht verweigern.

Wenn es eine Verpflichtung gegenüber den grünen Wählern gibt, dann doch, grünes Programm in Regierungshandeln umzuwandeln – ein Programm, das auch für erfolgreiche Wahlkreiskandidaten wie Bayram gilt. Und natürlich geht das nicht 1:1 – Koalition beginnt nicht umsonst genauso wie Kompromiss.

Völlig daneben wäre es auch, als linker Grüner auf eine Pro-Jamaika-Mehrheit in der Restpartei zu spekulieren und daraus abzuleiten, am alten FDP-Seehofer-Feindbild festhalten zu können. Es gibt so etwas wie den Kant’schen Imperativ, und der sagt sinngemäß: Verhalte und entscheide Dich so, als ob davon das Wohl aller abhängt, mach Dir keinen schlanken Fuß und denk nicht, die anderen würden’s schon richten.

Vor allem nicht die SPD. Die kann tatsächlich mit gewissem Recht sagen, dass sie nicht in der Pflicht zum Koalieren und Regieren ist, weil abgestraft und abgestürzt, statt gestärkt wie die Grünen aus der Wahl herauszugehen. Einspringen würde sie vermutlich dennoch, so erleichtert die Sozis am Wahl­abend im Willy-Brandt-Haus auch angesichts einer Trennung von der Union schienen. Nicht aus Machtgeilheit, sondern weil die SPD als lange staatstragende Partei im Zweifelsfall hat, worüber Bayram und die Kreuzberger hoffentlich auch verfügen: echtes Verantwortungsgefühl, und zwar fürs Ganze.