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Schnittmuster des Schicksals

Bühnentriathlon Oliver Reese ist der zweite Intendant, der in dieser Spielzeit ein großes Berliner Theater neu übernimmt. Er eröffnet das Berliner Ensemble mit einem gut kalkulierten Programm

von Katrin Bettina Müller

Hoho, wir können Theater, wir haben volles Programm. Niemand tönt wirklich so am Berliner Ensemble, aber der Start unter dem neuen Intendanten Oliver Reese hat etwas von einem Muskelspiel, dem sich wie von selbst ein Werbetext unterlegt. Ihm blies nicht so ein Wind entgegen wie Chris Dercon an der Volksbühne. Nur der scheidende Intendant Claus Peymann sah hier vergleichbare Vorgänge.

Mit gleich drei Premieren und einem neu gebauten Zuschauersaal, der sich „Kleines Haus“ nennt, wurde eröffnet. Der Werbetext könnte folgendermaßen lauten: Hier vertrauen wir unserem Schauspiel-Star Constanze Becker, die viele noch vom Deutschen Theater kennen und lieben, dem jungen Regisseur Antú Romero Nunes an (in „Caligula“ nach Camus). Und hier lernen Sie die in Berlin noch unbekannte Regisseurin Matjea Koleznik kennen, die aus Slowenien kommt und seit fünf Jahren auch in Deutschland arbeitet. Diesmal wird sie mit drei weiblichen Diven (Corinna Kirchhoff, Judith Engel und Anne Ratte-Polle) das sehr intime Kammerspiel „Nichts von mir“ des norwegischen Autors Arne Lygre inszenieren, denn wir fördern Frauen und neue Dramatik. Und hier sehen Sie, dass wir Brecht können, traditionsbewusst sind und die Anhänger des alten Berliner Ensembles nichts zu befürchten haben: Michael Thalheimer kommt als Hausregisseur und macht „Der kauskasische Kreidekreis“, mit Verbeugung vor Brecht, dessen erste Inszenierung das in diesem Haus 1954 war.

Demut üben

Zwei der drei Premieren habe ich mir angeschaut. Während der neue Intendant der Volksbühne, Chris Dercon, Besetzer im Haus hat, sitzen hier am Freitag die Kritiker und Politiker ziemlich entspannt. Um dieses Haus macht man sich keine Sorgen – erwartet allerdings auch keine großen Überraschungen.

Wenn sich auch einige der Schauspieler am Berliner Ensemble schon aus Frankfurt kennen, von dort hat Oliver Reese sie mitgenommen, so gilt doch, dass sie sich als Ensemble erst finden müssen. „Nichts von mir“ im damit eröffneten „Kleinen Haus“ hat unter diesem Aspekt am Freitag, dem zweiten Tag des Auftakt-Triathlons, fast etwas von Einübung in schauspielerische Demut; denn jeweils drei Schauspielerinnen und drei Schauspieler geben in identischen Kostümen die Rolle einer Frau und eines Mannes, genau choreografiert in ihren sich wiederholenden Bewegungen. Unaufhörlich gehen sie durch eine Wohnung, er in Socken, sie in Schuhen, holen ein Glas Wasser, lassen Streichhölzer fallen, setzen sich und stehen wieder auf. Ihre Mimik ist beherrscht. Sie reden von Anziehung, von Liebe, von Sex und berühren sich doch nie auf ihren Umlaufbahnen zwischen Küchentresen, Terrasse und Bad. Sie hat ihren Mann und ihren Sohn verlassen, um zu ihm zu kommen. Er ist darüber froh und fürchtet doch, nicht der zu sein, neben dem sie das Beste in sich entfalten kann.

Weiterdenkende Zuschauer

Anfangs schaltet der Text von Arne Lygre verschiedene zeitliche Ebenen ineinander. Alles wird aus der Erinnerung heraus erzählt. Jedes Gefühl ist gedämpft, verpackt in Haltung und Reflexion. So sieht man einen intimen Tanz der Monologe, die zurückliegende Verletzungen und Verluste aufdecken. Schmerz und Trauer scheinen unumgänglich. Der Zugriff der Regisseurin Mateja Koleznik ist einerseits streng, sie lässt niemand aus dem Schnittmusterbogen des Schicksals heraus. Aber er ist auch sanftmütig; er lässt den Liebenden alle Zurückhaltung, alles Nicht-Auszusprechende. Niemand muss hier seine Seele vor uns auskotzen. Eine wohltuende, feinfühlige Unaufdringlichkeit.

Samstag, dritter Tag des Auftakts. Der Regisseur Michael Thalheimer, der in Berlin nun exklusiv am BE inszenieren wird, ist zu Recht beliebt. Nicht nur weil er die klassischen deutschen Theaterstoffe ohne den Ballast all dessen zu inszenieren weiß, was aufgrund der zeitlichen Distanz nicht einfach zu verstehen ist – und dabei fast immer spannend, berührend, unterhaltsam erzählt. Fast nie stößt er seine Zuschauer vor den Kopf, nie sucht er ästhetisch den Weg über die Zumutung.

Thalheimer erzählt die Geschichte von der Magd Grusche, die im Krieg ein Kind rettet und mit dem Preis ihres eigenen Glücks bezahlt, als Ballade. Er verzichtet auf die Rahmenhandlung, die aus Grusches Entscheidungen ein Lehrstück über Moral und Eigentum macht – das weiterzudenken, bis in die Besitzverhältnisse der Gegenwart, überlässt er dem Programmheft. Ingo Hülsmann ist sein Sänger, der unsentimental das Drama beschleunigt und aus dem epischen Theater eine coole Performance macht. Stets ist der Text von Musik unterlegt, von einer Live-Gitarre gerahmt. Die junge Schauspielerin Stefanie Reinsperger ist seine Magd, das Pfund, mit dem Thalheimer hier wuchern kann: eine junge Frau von unerschütterlich wirkender Kraft, mit kräftiger Statur und langen blonden Zöpfen – die dann aber doch sehr bald ins Zittern und Zagen gerät. Bedrängt, genötigt und gepeinigt von Soldaten, tut sie doch alles auf ihrer Flucht, um das fremde Kind, Sohn des ob seiner Grausamkeit geköpften Gouverneurs, zu schützen.

Die Magd Grusche ist in einem einsamen Lichtstrahl oft auch die einzig erkennbare Figur, während die anderen aus Dunkelheit vor- und zurücktreten, mal als ängstliche Bauern, mal als fiese Panzerreiter. Als einzig größere Rolle neben ihr spielt Tilo Nest den Richter Azdak, einen in den Kriegswirren aufgestiegenen Dorfschreiber, der im entscheidenden Moment das moralisch richtige Urteil fällt.

Diese Konzentration auf einen Erzählfaden macht das Drama einerseits zugänglich – überlässt andererseits, was es an Kontext über Brecht, Klassenkampf, Nachkriegszeit, DDR-Anfang und moralischen Wieder-Aufbau so einzuspeisen gäbe, getrost dem Zuschauer. Der am Berliner Ensemble ja meist doch eine große Seherfahrung mitbringt. Und sich so auch im neuen BE bald zurechtfinden wird.

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