„Die Leute trauten sich, anders zu leben“

FOTOGRAFIE Eine Kreuzberger Ausstellung zeigt das Berlin der 80er Jahre. Ann-Christine Jansson, heute taz-Fotoredakteurin, hat damals fotografiert

geboren in Schweden, lebt und arbeitet in Kreuzberg. Seit 1980 ist sie freiberufliche Fotojournalistin für skandinavische und deutsche Medien. Sie gründete ein Journalistenbüro und eine Fotoagentur, veröffentlichte in zahlreichen Buchpublikationen und arbeitet als Fotoredakteurin bei der taz.

„Als ich begann, die alternativen Lebenswelten im Kreuzberg der 1980er Jahre zu fotografieren, da war ich sehr beeindruckt. Ich bin in einem „Baumwollwatteland“ aufgewachsen – im Schweden der Ära Olof Palme. Dagegen war es in Berlin ganz anders. Die Menschen setzten sich auseinander, theoretisch in Diskussionen, auch auf der Straße. Überall war Konfrontation.

Die Leute protestierten. Sie waren von ihrer Sache überzeugt. Es gab auch mehr Aggression. Manchmal hatte ich Angst. Ich erinnere mich an einen Staatsbesuch, bei dem ich bewusstlos geschlagen wurde, obwohl ich mit Presseausweisen behängt war wie ein Weihnachtsbaum – und obwohl ich immer stehen blieb, wenn die Leute anfingen zu rennen, weil ich nicht den Jagdtrieb der Polizisten provozieren wollte.

Aber ich habe nicht nur bedrohliche Situationen erlebt. Im Berlin der 1980er Jahre gab es auch mehr Solidarität untereinander. Man hielt zusammen. Auch deshalb trauten sich die Leute, anders zu leben. Das hat mich besonders interessiert. Ich habe diese Aussteiger fotografiert, und zwar so, wie ich fotografisch erzogen worden bin: indem ich nicht nur abbilde, sondern auch meine Sicht der Welt erzähle und Gefühle zeige. Manche Bilder, auf denen ich nicht zu sehen bin, sind eigentlich Selbstporträts.

■ Während des 5. Europäischen Monats der Fotografie zeigt das Museum Kreuzberg die Ausstellung „Augenblicke – Stillstand und Bewegung“ mit Fotografien von Ann-Christine Jansson, Peter Gormanns, Michael Hughes, Wolfgang Krolow, Horst Luedeking, Toni Nemes und Siebrand Rehberg. Die Fotos geben Einblicke in das West-Berlin der 1970er und 80er Jahre: In eine Stadt im Schatten der Mauer, der alternativen Lebensentwürfe, der Straßenschlachten. Eröffnung Samstag, 3. 11, 17 Uhr. Bis 1. 12., Museum Kreuzberg in der Browse Gallery, Marheinekeplatz 15. SM

In der Mauerstadt der 80er schloss niemand sein Auto ab. Heute dagegen sieht man immer mehr glänzende Autos auf Berlins Straßen. Oberflächlich sieht Berlin heute Schweden sehr ähnlich. Ob die Leute allerdings wirklich zufriedener sind als damals, das weiß ich nicht. Mehr und mehr Menschen können sich die Mieten nicht mehr leisten und müssen umziehen. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das so stark war in Berlin, verschwindet.“ PROTOKOLL: SUSANNE MESSMER