Kein echter Berlin-Film ohne Nazis

Gerster hat den Trick der Verdrängung im jüngeren deutschen Nazifilm genau verstanden

Grau ist er, der Himmel über Berlin, und es regnet aus ihm herunter. Bestes Kinowetter – zumal, wenn man eine Privatvorstellung mit Espresso bekommt, unten im Vorführraum der X-Filme in der Kurfürstenstraße. X-Filme residieren in einem Haus mit strenger Fassade, bei dem man sich gleich fragt, welche Nazis hier denn wohl drin waren.

Man kann sich Berlin nicht ohne Nazis denken, genauso wenig wie man sich Berlin ohne Rudi Dutschke und Rio Reiser, ohne Mauer und Mauerfall, ohne Türken und Hugenotten denken kann. Das hat auch Jan Ole Gerster verstanden. Sein schwarzweiß gedrehter Berlinfilm „Oh Boy“ handelt von einem jungen Mann der Gegenwart namens Niko (Tom Schilling), der nicht weiß, was er mit seinem Leben anfangen soll. In Gersters Spielfilmdebüt kommen die Nazis zweimal vor: einmal als die Pappkameraden des deutschen Films, einmal in der Erinnerung eines Alten.

Um klar zu machen, was am jüngeren deutschen Nazifilm so komisch riecht, hat sich Gerster eine Szene auf einem Berliner Filmset ausgedacht, an dem ein deutscher Nazifilm gedreht wird. Dessen Story erzählt uns der rührselige Hauptdarsteller: Heinrich ist ein aufstrebender Jungschriftsteller, der zum Nazi wird. Als er seine Jugendliebe Hanna deportieren soll, versteckt er sie. Wir sehen beim Drehen der Schlussszene zu, wie Heinrich seiner Hanna erzählt, dass Berlin kapituliert hat. Sie freut sich, er aber ruft, schon im Gehen, melodramatisch aus: „Du weißt doch nicht, was ich getan habe!“ Heldenhaft, diese Deutschen. Noch im Untergang stellen sie sich tapfer der historischen Verantwortung.

Gerster hat den mit Kitsch camouflierten Trick der Verdrängung im jüngeren deutschen Nazifilm verstanden. Er hat auch einen genauen Blick für die Präsenz des Vergangenen in der Stadt. Ein paar Szenen hat er im Tacheles gedreht, als das noch ging. Dafür verzeiht man ihm manchen Kalauer und den Jazzsoundtrack.

Zum zweiten Mal tauchen die Nazis in der Erzählung eines alten Mannes auf, der um einiges ehrlicher als der jüngere deutsche Nazifilm ist. Er erinnert sich, wie sein Vater Steine auf ein Geschäft warf, bis die Straße voller Scherben lag. Da fängt der kleine Junge zu weinen an: „Bei all den Glasscherben kann ich nicht mehr Fahrrad fahren.“ Das Haus der X-Filme ist übrigens gar kein Nazibau. ULRICH GUTMAIR