Die Erfinderin der Langsamkeit

TRAUMA Tana French verarbeitet in „Schattenstill“ die psychologischen Folgen der Finanzkrise in Irland zu einem ebenso fesselnden wie subtilen Krimiwälzer

Der Kriminalroman an sich ist ein schnelles Genre. Schnell geschrieben, schnell gelesen und, wenn man ehrlich ist, auch schnell vergessen sind die meisten, die man denn auch eher unter dem Begriff „Entspannung“ kategorisieren würde als unter „Belletristik“. Aber dann gibt es eben auch die Ausnahmen und die Zwitter. Und es gibt Tana French. Schnell geht bei French gar nichts. Die irisch-amerikanische Autorin schreibt wahre Krimiwälzer – auch der neueste hat wieder über 700 Seiten –, weil sie sich sehr viel Zeit nimmt. Zeit für die Entwicklung von Figuren und Milieus, von Handlung und Motiven. Es sind Bücher, in denen man versinken darf und muss, denn auch das Lesen braucht natürlich seine Zeit.

Während es in der schnellen Art von Kriminalroman leicht etwas wohlfeil wirkt, wenn aktuelle Bezüge in die Handlung eingearbeitet werden, entwirft French in „Schattenstill“, das im Original „Broken Harbor“ heißt, ein Szenario, das sehr subtil die ökonomischen und mentalen Verheerungen verbildlicht, die Irland im Rahmen der internationalen Finanzkrise gebeutelt haben. Eine Familie wird ermordet aufgefunden, der Vater erstochen, die beiden kleinen Kinder erstickt, die Mutter lebensgefährlich verletzt. Das junge Paar hatte sich einen Lebenstraum erfüllt und ein Haus in einem Siedlungsprojekt gekauft, eine Autostunde von Dublin entfernt am Meer gelegen.

Risse in der Fassade

Doch die Siedlung ist nicht einmal halb fertig geworden, bevor der Investor pleiteging und sich zurückzog. Nur wenige Häuser in der Geisterstadt sind überhaupt bewohnt. Der ermittelnde Detective Mike Kennedy wird durch die Umgebung an Schlüsselerlebnisse aus seiner eigenen Kindheit erinnert, denn am Strand von Broken Harbor, wie der Flecken am Meer hieß, bevor die Investoren den Ort zugunsten des Siedlungsbaus schleiften, hatte seine Familie immer die Sommerferien verbracht. Kennedys Erinnerungen bergen allerdings mehr als nur harmlose Kindheitsnostalgie.

Tana French gelingt eine überzeugende Parallel- und Engführung zweier Handlungsstränge. Je weiter Kennedys Ermittlungen vorankommen, desto deutlicher zeigen sich gewaltige Risse in der Fassade des scheinbar perfekten Lebens der Opfer, des ehemals so erfolgreichen jungen Paars Jenny und Patrick Spain. Diese Fassade aufrechtzuerhalten, war, wie sich herausstellt, zunehmend schwierig geworden, nachdem Patrick in der Rezession seine Arbeit verloren hatte.

Und auch Detective Mike Kennedy selbst, der den Roman in der Rolle eines nicht wirklich verlässlichen Ich-Erzählers maßgeblich trägt, hat eine Fassade zu wahren, die während der Arbeit an diesem Fall zu bröckeln beginnt. Auch er ist, wie ganz allmählich offenbar wird, das Opfer einer Familientragödie, die er nie wirklich verarbeitet hat.

Es ist wunderbar, wie Tana French ihre komplexe Geschichte von mehreren Seiten her erzählt, ohne jemals explizit und somit plump werden zu müssen. Durch die sehr subjektive und in vielen Dingen fragwürdige Haltung des ermittelnden Ich-Erzählers wird man beim Lesen ohnehin von vornherein darauf eingestimmt, das Erzählte mit Vorsicht zu genießen und eher eigene Mutmaßungen anzustellen, als sich in jeder Hinsicht auf Detective Mike Kennedy zu verlassen. Dieser Kunstgriff ist French sehr gelungen. Er ermöglicht ein aktives, mental mitgestaltendes Lesen, das die Lektüre dieses genau richtig dicken Romans zu einem anhaltenden Vergnügen macht. KATHARINA GRANZIN

Tana French: „Schattenstill“. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Scherz Verlag, Frankfurt a. M. 2012, 730 Seiten, 16,99 Euro