„Politik der reifen Frucht“

KLIENTELISMUS Ganz Griechenland ist korrupt und pleite. Ganz Griechenland? Nein, zumindest in der Literatur gibt es wahre Europäer wie Petros Markaris und seinen Kommissar Kostas Charitos. „Zahltag“ ist sein siebter Fall

Von den zahlreichen Demos hält der Bulle nichts

VON CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK

Mit eiskalter Präzision verfolgt der Mörder in Petros Markaris’ Krimi „Zahltag“ seinen Racheplan. Ein Typ vom Schlage, wie ihn Mel Gibson in dem gleichnamigen 90er-Jahre-Kinothriller gibt, ist der Täter nicht. Obwohl er eigentlich genauso ein Spießer ist, einer von den ewig Zu-kurz-Gekommenen, nur dass ihm Schuldenkrise und Bürokratie Griechenlands das Wasser abgegraben haben.

Seine Opfer, von denen es in Athen bald eine kleine Reihe gibt, warnt der Mörder immerhin: „Sehr geehrter Herr Athanassios Karassidis, Sie sind als Chirurg an der Ajia-Lavra-Privatklinik tätig. In Ihrem Besitz befinden sich eine zweistöckige Villa mit Swimmingpool in Ekali, ein Landhaus auf Paros, ein Rennboot und eine Gemäldesammlung […]. Beim Finanzamt geben Sie ein zu versteuerndes Nettoeinkommen von 50.000 Euro an. Nach meinen Berechnungen liegt die von Ihnen zu zahlende Steuerschuld zwischen 200.000 und 250.000 Euro. Zahlen Sie daher bitte innerhalb der nächsten fünf Tage den Ihrem Einkommen entsprechenden Betrag von 200.000 Euro an das zuständige Finanzamt. Widrigenfalls wird anders abgerechnet, und Sie werden liquidiert.“ Seine Briefe unterzeichnet der Racheengel mit: „Der nationale Steuereintreiber“.

Der mit dem Fall betraute Kommissar Kostas Charitos, wie der Gejagte nicht gerade ein Haudegen, darf sich dagegen inmitten des Troika-bedingten Kürzungswahns sogar Hoffnung auf eine Beförderung machen. Doch nun hat er ein ernstes Problem. Denn welcher vernünftige und auch nur mit einem Minimum an Galgenhumor ausgestattete Mensch würde versuchen, einen Mann dingfest zu machen, der zwar den einen oder anderen von Schierlingsgift hingerafften Steuerhinterzieher auf antiken Stätten deponiert, ansonsten aber Unsummen auf staatliche Konten schwemmt: gezahlt von wenn auch nicht reuigen, so doch überaus ängstlichen Sündern. Den zuständigen Ministern, vor die Charitos im Zuge der Ermittlungen zusammen mit seinem Chef zitiert wird, stehen auch bald Schweißperlen auf der Stirn – unklar, ob aus Angst, demnächst selbst angeschrieben zu werden, oder wegen der Verzwicktheit der Aufgabe.

Des Kommissars siebter Fall, auf Griechisch erschienen vor einem Jahr, ist zugleich der zweite, den er seit Beginn der Krise zu lösen hat. Sein in Istanbul geborener und nun in Athen lebender Autor Petros Markaris ist einer der klügsten und im Ausland profiliertesten Intellektuellen des Landes. Mit dem Charitos-Band „Faule Kredite“, in dem Banken- und Hedgefondsmanager dran glauben müssen, hat er eine „Trilogie der Krise“ angekündigt. Gegen schlaumeierische Kommentare („Was, so lange soll die Krise dauern?“ respektive „Na, ob das wohl reicht!“) hat Markaris sein Projekt immer wieder verteidigt. Dauern werde die Krise in jedem Fall, und zur Not könne er ja eine Tetralogie daraus machen. Oder er schriebe eben eine weitere Trilogie.

Wie gewohnt gibt es auch in „Zahltag“ ein breit gefächertes Personal, an dem Markaris die unter Druck geratenen Lebenslagen und dazugehörigen Befindlichkeiten im heutigen Griechenland schildert. Charitos’ Tochter Katerina etwa, die als Anwältin für Asylbewerber immer noch auf elterliche Zuwendungen angewiesen ist, will eine Stelle in Afrika annehmen. Anlass für zahlreiche Treffen im Hause Charitos einschließlich der Schwiegereltern, auf denen tränen- und umarmungsreich bei gut gedecktem Tisch mal der Familienzusammenhalt, mal die Frauenemanzipation beschworen wird und viele Merksätze übers marode Land fallen. Der Krimi als Gesellschaftsroman – in und für Griechenland hat ihn der studierte Volkswirt Markaris erfunden, der lange Zeit Angestellter in einer Zementfabrik war und das Schreiben und Übersetzen, darunter Brecht und Goethe, nur als Nebentätigkeit betrieb.

Zu Markaris’ Krimis gehören auch wunderbare Vignetten des Athener Alltags, gesehen durch die Brille des Ich-Erzählers Charitos, über den der Autor einmal gesagt hat, er kritisiere „aus der Perspektive eines tief konservativen Menschen die Missstände fast wie ein Progressiver“. Von den zahlreichen Demos der Krisenzeit hält der Bulle nichts. Während er in seinem kleinen Seat durchs von der Krise einigermaßen leergefegte Athen braust, sind sie ihm nur ein ärgerliches Verkehrshindernis.

Kein Wunder, wenn man hinzunimmt, was Markaris in einem seiner Essays über die Massendemonstrationen und Arbeitsniederlegungen in Griechenland zu vermelden hat: „Die Streiks in den Behörden und Staatsbetrieben mit Demonstrationen, die mitunter wöchentlich abgehalten werden […], sind nur ein letzter verzweifelter Versuch der Moloch-Partei“, wie Markaris den griechischen Staatsapparat und seine Betriebe nennt, „ihre Privilegien zu sichern oder wenigstens zu retten, was zu retten ist.“ Das, was im Ausland, vor allem von Linken, als Zeichen einer starken sozialen Protestbewegung willkommen geheißen wird, ist oft, vor allem wo Masse erzeugt wird, nur die Verteidigungsschlacht einer korrupten Bürokratie – geführt von den zu ihr gehörigen Gewerkschaften.

Eine Reihe von scharfzüngigen Texten, die Markaris nach 2008 in deutschsprachigen Zeitungen, darunter einige auch in der taz, zur Lage in Griechenland veröffentlicht hat, erschienen gerade zeitgleich mit „Zahltag“. In den Texten der lesenswerten Zusammenstellung unter dem Titel „Finstere Zeiten“ betont Markaris mehrfach, dass es sich bei der Krise weniger um eine Finanz- als um eine tief greifende politische Krise handele.

Ihren Anfang habe die heutige politische Kultur im Bürgerkrieg genommen, der, von einer stalinistischen KP angezettelt und von Nationalisten mit härtesten Bandagen beantwortet, das Land nach der deutschen Besatzung weiter verwüstete. Mit dem Sieg der Nationalisten begann 1949 die Ära des Klientelismus: „Die Linken wurden unnachgiebig verfolgt, während der regimefreundliche Teil der Bevölkerung und diejenigen, die auf Seiten der Nationalisten gekämpft hatten, mit kleinen und großen Privilegien belohnt wurden.“

Diese Kultur überlebte die Obristendiktatur und wurde nach 1981 von der erstmals siegreichen sozialdemokratischen Partei Pasok auf die Spitze getrieben. „Andreas Papandreou war gezwungen, seine eigenen Leute in Schlüsselpositionen zu setzen, weil er Angst hatte, dass sonst seine Politik von einem ‚nationalgesinnten‘ Staatsapparat […] unterminiert worden wäre.“ Dies tat der Ministerpräsident nicht, indem er Beamte austauschte, sondern er stellte einfach zusätzlich neue ein. Das war zusammen mit einer großzügigen Erhöhung der Renten um 50 Prozent „der Anfang des heutigen Desasters“, wie Markaris urteilt.

Bis heute habe sich nichts daran geändert, dass sich die Oppositionsparteien darauf versteifen, die Politik der Regierung zu diskreditieren, anstatt mit einem eigenen Programm zu punkten. Sobald diese abgelöst wird, setzt man das Klientelsystem zu eigenen Gunsten fort. Die Blockadepolitik des linken Bündnisses Syriza, so kann man ergänzen, der derzeit stärksten Kraft neben den koalierenden Regierungsparteien Pasok, Nea Dimokratia und Dimar, lässt wenig Hoffnung, dass die „Politik der reifen Frucht“ (Markaris) in nächster Zukunft von einer parlamentarischen Konsenskultur abgelöst werden könnte. Das könne einzig ein grundlegender Mentalitätswandel bei den Politikern, lautet seine Bilanz.

Kritik der Unvernunft

„Ich bin todmüde von dieser Abwertung der Politik“, gestand Markaris bereits 2007 in einem taz-Interview. Doch der 75-Jährige wird bis heute nicht müde, sich einzumischen: „Wir brauchen dringend eine öffentliche Diskussion in Griechenland, um festzustellen, was wir alles falsch gemacht haben. Die Literaturschaffenden und Künstler können zu dieser Diskussion entscheidend beitragen.“

Denn zu der kritisierten politischen Kultur gehört auch eine Haltung der Wähler. Jedes Mal, zuletzt zweimal in diesem Jahr, entscheiden sich viele für eine Partei, die in den höchsten populistischen Tönen die Verfehlungen der Regierung anprangert. Wie die Neonazi-Partei Goldene Morgenröte, die in Meinungsumfragen zurzeit auf 14 Prozent kommt und damit ihren Stimmanteil seit den letzten Wahlen verdoppelt hat. Die Menschen sagen sich: Schlimmer, als es jetzt ist, kann es nicht kommen. Doch, sagt Markaris, kann es. Und er geißelt diese erneuerungsfeindliche Unvernunft auch in seinem neuesten Krimi. Charitos’ Tochter Katerina wird schließlich im Land bleiben, um dafür zu kämpfen, „dass es nicht noch schlimmer kommt“.

Petros Markaris: „Zahltag. Ein Fall für Kostas Charitos“. Diogenes Verlag, Zürich 2012, 432 Seiten, 22,90 Euro

Petros Markaris: „Finstere Zeiten. Zur Krise in Griechenland“. Diogenes Verlag, Zürich 2012, 176 Seiten, 14,90 Euro