Die schnellste Zensur

ILB 5Can Dündar kritisiert das Verhalten der deutschen Regierung gegenüber der Türkei

Can Dündar, Chefredakteur der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet, wurde 2015 zusammen mit deren Hauptstadtkorrespondent Erdem Gül verhaftet. Recep Tayyip Erdoğan persönlich stellte Strafanzeige und forderte eine lebenslange Haftstrafe. Beiden Journalisten wird Spionage und Verrat von Staatsgeheimnissen vorgeworfen. Nach dreimonatiger Untersuchungshaft wurden Dündar und Gül freigelassen; das türkische Verfassungsgericht hatte die Haft für nicht rechtens erklärt. Dündar lebt seitdem in Deutschland und hat zahlreiche Bücher und Beiträge in Zeitungen veröffentlicht.

Am Montagvormittag sprach er im Rahmen des Internationalen Kongresses für Demokratie und Freiheit auf dem Internationalen Literaturfestival mit Zara Rahman über die Zeit seiner Haft, bedrohte Demokratien und internationale Solidarität. „Das Schreiben hat mein Leben gerettet“, sagt Dündar. Während seiner drei Monate dauernden Untersuchungshaft schrieb er ein 300 Seiten langes Buch, „Lebenslang für die Wahrheit“. Am Anfang des Jahres gründete er die zweisprachige journalistische Plattform „Özgürüz“ („Wir sind frei“). Kurz nachdem sie online gegangen war, wurde die Website allerdings durch die türkische Behörde für Informationstechnologie als „gefährlich“ eingestuft und geblockt: „Das war die schnellste Zensur, die ich jemals gesehen habe“, lacht Dündar.

Sein Bericht über die Zeit der Inhaftierung fällt größtenteils augenzwinkernd aus: „Der Vorteil, wenn du im Gefängnis schreibst, ist ja, dass du keine Angst mehr haben musst, deshalb festgenommen zu werden.“ Er verfasste sogar einen Brief an Erdoğan, in dem er sich für seine Inhaftierung bedankte: „Erdoğan hasst Humor. Deshalb schrieb ich ihm, ich sei im Gefängnis in bester Gesellschaft. Alle waren dort: Schreibende, Kreative, politisch Aktive. Wir hatten sogar eine Bibliothek.“ Eine Situation führt Dündar als beispielhaft an: „Einmal fragte jemand in der Bibliothek nach einem bestimmten Roman. Als Antwort darauf kam zurück: ‚Das Buch haben wir leider nicht mehr da, aber der Autor ist hier!‘“

Ein Lachen geht durch das an diesem Tag vorwiegend aus SchülerInnen bestehende Publikum. Wenn die Lage nicht so bitterernst und furchtbar traurig wäre: Weltweit nimmt die Anzahl totalitärer Regime zu, die systematische Unterdrückung freier Meinungsäußerung und die damit einhergehende willkürliche Verhaftung regimekritischer Menschen in der Türkei scheint kein Ende zu nehmen.

Dündar sagt, der Feind sei nicht Erdoğan, sondern die Angst: „Es ist wichtig, diese Angst zu überwinden. Ohne Mut kann man nicht die Prinzipien eines Landes verteidigen.“ Damit bezog er sich nicht nur auf die Türkei, sondern auch auf Länder, in denen die Demokratie noch intakt zu sein scheint: „Man merkt erst, dass man bestimmte Werte und Prinzipien verteidigen muss, wenn sie nicht mehr wie selbstverständlich einfach vorhanden sind. Auch scheinbar gefestigte Demokratien können sich sehr schnell wieder verändern.“

Internationale Solidarität

Sehr dankbar zeigte sich Dündar für die breite internationale Solidarität, die sämtliche in der Türkei Inhaftierte erfahren: „Erdoğan will die Gefangenen von der Welt isolieren. Deshalb ist mein einziger Rat: Wir müssen den Gefangenen zeigen, dass sie nicht allein sind.“ Er kritisierte: „Durch die internationale Solidarität unter anderem durch JournalistInnen haben die Gefangenen mehr Unterstützung erhalten als durch die deutsche Regierung.“

2016 wurde Dündar wegen der Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen für schuldig befunden und zu fünf Jahren und zehn Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Dündar legte Revision ein, und während er an diesem Montagvormittag in Berlin sprach, tagte in Istanbul ein Gericht im Prozess gegen die angeklagten Mitarbeiter der Cumhuriyet. Die Richter verkündeten am Abend, niemand werde freigelassen. Zudem werde das Gericht auf die „Exekution der Verhaftung von Can Dündar und Ilhan Tanir“ warten. Annika Glunz