Lustschreie im wilden Canyon

Auf der Wanderstudienreise in die italienischen Abruzzen locken Gipfel wie der Monte Camicia. Bei gutem Wetter wäre der auch locker zu erklimmen

VON GÜNTER ERMLICH

Um ins Herz zu gelangen, müssen wir zunächst den Bauch durchqueren. Hinter dem elf Kilometer langen Straßentunnel, der das Gran-Sasso-Gebirge durchbohrt, liegen die Abruzzen, das „wilde Herz Italiens“. Nicht mit dem Billigflieger, sondern – ökologisch korrekt – mit dem Bus sind wir von München aus durch die Nacht und über die Alpen bis zur Abruzzen-Kapitale L’Aquila gefahren. Unter fachkundiger Begleitung von Herbert Grabe, Inhaber des Regensburger Kleinveranstalters „erde und wind – Italien mit allen Sinnen“, wollen wir La bella addormentata erwandern, Die schöne Schlafende, wie der italienische Dichter Gabriele D’Annunzio die Gebirgskette des Gran Sasso charakterisiert hat.

Ein erster Espresso an der Bar der Piazza Duomo, ein erster Spaziergang durch L’Aquila, die città novantanove. Hier dreht sich der Überlieferung nach alles um die Zahl 99: 99 Siedlungen (Burgen) sollen es bei Stadtgründung durch die Staufer anno 1254 gewesen sein, es gibt 99 Kirchen (faktisch knappe 66), abends schlägt die Stadtglocke angeblich 99-mal. Und 99, nein 93 Wasserspeier in Form von Putten, Masken, Fabelwesen, Mönchen, auch Tieren, verzieren die monumentale, trapezförmige Brunnenanlage am tiefsten Punkt der Stadt. Schon zur Gründerzeit stand hier ein Wasch- und Schöpfbrunnen, daher bedeutet L’Aquila „wasserreiche Örtlichkeit“. Doch wir haben nur Augen für das neckische Spektakel auf der Bühne. Vor den Wasserspeiern posiert ein Brautpaar, von zwei Profis mit Fotokamera und Camcorder in vielfältige Posen gestellt. Der tiefschwarz Befrackte beträufelt den Rücken seiner schneeweiß Beschleppten mit Wassertröpfchen, später wirft er ihr voller Hingabe einen roten Blumenstrauß und ein paar Kusshände zu, während sie diese voller Schmacht mit weit ausgebreiteten Armen empfängt. So etwas erlebt man schwerlich in Cloppenburg oder Wolfenbüttel!

Auch unser Frontmann Herbert Grabe ist schwer verliebt, aber in die Abruzzen, in deren Bars und Berge, Menschen und Kirchen. Seit 20 Jahren bereist der schnellfüßige Jungfünfziger die Region zwei Autostunden östlich von Rom und bietet dorthin seit zehn Jahren Wanderstudienreisen an. Mit von der Partie sind diesmal rund 25 Wandervögel: Helga und Helmut vom Dortmunder Mieterverein, die Biobäuerin Ulrike und der Biobauer Norbert (nicht liiert), Gabriele und Ernst-Uwe, die in den Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel arbeiten, die Apothekerin Christl und die Filmemacherin Uta. Eine bunte, kommunikative Wanderschar, ausgestattet mit feinem Rucksackzwirn und trendigen Nordic-Walking-Stöcken.

Sonntagmorgen, der erste Wandertag. Der Reisebus bringt uns durch das Aterno-Tal mit den campi aperti, Kleinstfeldern mit Getreide, Linsen, Kartoffeln und Bohnen, in Serpentinen hoch ins Dorf Calascio. Draußen vor der Bar liegt die überdachte Laube noch im Schatten. „Sala di fumatori“ steht auf dem Schild, Raucher müssen draußen bleiben. Vorbei an steinalten, schön restaurierten Häusern, an Nuss- und Mandelbäumen steigen wir hinauf zum Torre di Calascio, der höchstgelegenen und besterhaltenen Burg der Abruzzen. Freiwillige der protezione civil, einer Art italienisches THW, versorgen die Sonntagswanderer mit Infos über das mit vier Rundtürmen bewehrte Kastell. Wir genießen den Premium-Standort für ausschweifende Blicke auf die grandiose Hochgebirgslandschaft des Gran Sasso. „Es ist ein Zentrum gewaltiger Alpenwelt“, notierte einst der Kulturhistoriker Ferdinand Gregorovius, „aber einer italienischen in dem smaragdenen feenhaften Lichte des Südens.“

Eine Kette von Kalkstein- und Dolomitgipfeln liegt vor uns. Der 2.912 Meter hohe Corno Grande, das große Horn, der höchste Gipfel Italiens außerhalb der Alpen, daneben der pyramidengleiche Monte Camicia und der wild zerklüftete Monte Prena. Sie gehören wie die runden Bergrücken der Monti della Laga, die aus Sandsteinablagerungen und dünnen Mergelschichten bestehen, zum 1991 gegründeten Nationalpark. Der Braunbär, die europäische Wildkatze, die abruzzische Gämse und auch der Wolf kommen hier vor. Zwar gibt es zwei weitere Nationalparks in den Abruzzen, aber eine Vernetzung der Naturräume sei zurzeit Wunschdenken, erzählt uns Herbert beim Picknick. Denn die Naturschutzpolitik werde in Rom gemacht, der jetzige Umweltminister sei ein Freund der Jäger und Bauindustrie, man denke sogar daran, die Nationalparks zu privatisieren.

Jeder Tag braucht ein Motto, heute steht „Wo der Tratturo endet“ auf dem Programm. Tratturo heißt Schafsdrift. Von Castel del Monte folgen wir dem alten Hirtenpfad und ächzen zur Passhöhe hoch. „Nicht stehen bleiben, Bewegung!“, scherzt Biobauer Norbert, „Leistung muss sich wieder lohnen!“ Später verliert sich der Pfad in den Bergwiesen, weil er nicht mehr unterhalten wird. Früher, zu Zeiten der transumanze, der großen Schafszüge von Apulien in die Abruzzen, waren die tratturi autobahnbreite Schneisen. Hunderttausende von Schafen verbrachten den Sommer auf den Weiden der gewaltigen Hochebene des Campo Imperatore. Seit Beginn des 14. Jahrhunderts, als sich die Benediktiner ansiedelten, die Schafzucht aufbrachten und mit Wolle und Seide handelten bis zum Zweiten Weltkrieg, lebten viele Abruzzer von der Schafwirtschaft. Heute ist der Campo Imperatore, benannt nach dem Hohenstaufer Kaiser Friedrich II., der vor gut 700 Jahren hier herrschte, eine kahle und steinige Ödnis. Wir begegnen nur ein paar Herden von Kühen und Pferden, hin und wieder auch kleinen Schafherden. Heute sind die Hirten Kroaten, Bosnier und Albaner, die während des Balkankriegs nach Italien geflüchtet waren.

Nachmittags wandern wir durch einen wilden Canyon mit flachem Kiesbett. Jeden Moment müsste ein Indianer um die Ecke geritten kommen. Und tatsächlich wurden in dieser Naturkulisse Italowestern wie „Vier Fäuste für ein Halleluja“ und „Die rechte und die linke Hand des Teufels“ gedreht. Das Schöne an der Wandergruppe ist die geballte Kompetenz der Hobbyornithologen und -botaniker. Auf Anhieb erkennt Ernst-Uwe – „Quik, quik, quik“ – die Cotonix cotonix, vulgo die Wachtel, die sich so trefflich im Brachgelände zu verstecken weiß. Plötzlich vernehmen wir Lustschreie im Canyon. Das sind die Pflanzenbestimmerinnen Christl und Gabriele, die gerade den kleinsten Baum der Welt entdeckt haben. Eine Strauchweide, die sich am Fels anschmiegt.

Am Wanderziel wartet der Bus mit Bier. „Feinste ökologische Bierspezialität“ aus dem Riedenburger Brauhaus. Geht Wandern über Studieren, also Kirchenangucken, oder umgekehrt? Wie bei jeder ambitionierten Wanderstudienreise eine Sache der Ansicht. Bei uns überwiegt eindeutig die Wanderlust – trotz des „facettenreichen Parcours durch die abruzzische Kunsthistorie“, in der Herbert uns die Freskenzyklen aus dem 13. Jahrhundert der drei Kirchen von Fossa und Bominaco in allen Details nahe bringt.

Zum Picknick unterwegs, das jeder für sich auf dem Marktplatz von L’Aquila eingekauft hatte, reicht Herbert abruzzische Literaturhäppchen, Kurzgeschichten und Miniaturen. Auf der Wiese vor der Abteiruine Santa Maria del Monte liest er uns eine Passage von Ignazio Silone vor, dessen sozial engagierte Romane in seiner Heimat spielen und das arme Leben der cafoni, der Landarbeiter, thematisieren. Jahrhundertelang hatten die Abruzzen den Makel der „Unbequemlichkeit wilder Gegenden“, sie galten als finster und gefährlich, Wälder mit Bären und Dörfer zwischen unbewohnten Weiten „wie aus schmutzigen Hühnerställen zusammengebaut“. Rau war das Klima, lang währte der Winter. Oft erschütterten Erdbeben den Landstrich, sodass man meist nur die Glockenwand von Kirchen wieder aufbaute, nicht den kompletten Glockenturm.

Weil so viele Menschen wegen der unwirtlichen Verhältnisse auswanderten, konnte die Natur weitgehend intakt bleiben. Und ist bis heute auch von größeren touristischen Sünden verschont geblieben. Veränderungen der Landschaft wie bei Ovindoli – Skischneisen im Bergwald, mächtige Stromleitungen im Tal, monotone Hotelriegel – sind die Ausnahme.

Abends im Panorama-Restaurant unseres Hotels. Das Essen ist Geschmackssache. Besonders für unsere Vegetarier. Sie bekommen eine eiskalte Käseplatte serviert, die nach ihrem Einspruch und drei Minuten Mikrowelle, lauwarm zurückkommt. Dazu machen heute die örtlichen Rotary-Clubberer Remmidemmi. „Von vorne Lyzeum, von hinten Museum“, spottet Anneliese über das „Bergblumenkleid mit Schwänzchen“ einer Signora. „Mi piace andare in montagna“, röhrt ein smarter Gast-Rotarier aus Florida akzentreich ins Mikrofon.

Nachts kommt der Winter zurück. Wolkenbrüche, Blitz und Donner, ein gewaltiger Temperatursturz. So etwas hat Herbert hier im Juni auch noch nicht erlebt. Der Schnee ist fast bis ins Tal gefallen – und die Gipfeltour zum Monte Camicia ins Wasser. Der Regen peitscht, es stürmt. Feuchte Erde und kalter Wind – Italien mal ganz anders, aber mit allen Sinnen halt.