Hochgradig Verwirrte

IDENTITÄT Jubelberliner und Ostautonome

Ich dachte: „Aha, das ist nun also ein historischer Moment“

In ewigen Schleifen zogen die Begeisterten über die Gedenkbildschirme.

Jemand sagte „89“, und man fühlte sich wieder so, als sei man grade ins Lehrerzimmer gerufen worden und solle nun Rede und Antwort stehen. Automatisch verkrampft man. Es war so gewesen: Die Mauer war umgefallen, Ka war vorbeigekommen, wir hatten was getrunken, waren dann aufgekratzt und neugierig rausgegangen. Die Mauer hatte da gleich gestanden. Draußen waren viele Menschen. Man hatte sich die Menschen angeschaut, die da in Richtung Mauer strebten; man hatte sich gesagt: „Aha, das ist nun also ein historischer Moment.“ Die anderen wichtigen Dinge auf dem Weg ins Erwachsenwerden hatte man schon absolviert, nur der historische Moment hatte noch gefehlt. Nun war man dabei.

Vielleicht schämte man sich ein bisschen, weil man die Freude seiner Mitberliner nicht angemessen teilen konnte. Aber nicht richtig; dazu war man schon zu betrunken. Ka, die sich richtiger als ich gefreut hatte, war noch betrunkener und verschwand.

Man selber war zum Checkpoint Charlie gegangen. Etwas abseits der Jubelberliner hatten auf der Westseite schwarz gekleidete Ostanarchisten, Autonome, Kollegen gestanden, die man erleichtert begrüßte. Sie hatten im Chor alle Lieder des Doppelalbums „Keine Macht für Niemand“ von Ton Steine Scherben gesungen. Irgendwie war es irritierend, dass die Ostanarchisten die Stücke so ordentlich werkgetreu und genau in der Reihenfolge gesungen hatten, in der sie auf der Platte waren. Man selber hatte dieses Album ein paar Jahre zuvor, als peinlichen Teil einer abzulegenden Identität, auf dem Flohmarkt verkauft. Später erzählte jemand, die Platte sei vom 2. Juni finanziert worden. In der DDR war Rio Reiser womöglich noch populärer als im Westen gewesen; eins der zwei umjubelten Konzerte, die er 88 in der Werner-Seelenbinder-Halle gegeben hatte, war im DDR-Fernsehen übertragen worden.

In den folgenden Wochen war die Stadt voll peinlicher Entgleisungen sympathisierender Anarchisten gewesen, die an der Mauer und anderswo jedes A hatten umkreisen müssen. Das A in „STASI“ war noch lustig, das A in „Nie wieder BRAUN“ oder „NAZIS RAUS“ seltsam. Auch die An-die-Wand-Maler schienen politisch hochgradig verwirrt.

DETLEF KUHLBRODT