Jungraver, fast alles kommt von Throbbing Gristle!

INDUSTRIAL Chris & Cosey spielten ein Liveset im Berghain. Es war eine Unterrichtseinheit zum Thema „Die Einflüsse von Minimal Wave und Industrial auf den Techno von heute“. DJ Hell legte danach einen Wave-Klassiker nach dem anderen auf

Cosey Fanni Tutti und Chris Carter versuchten erst gar nicht, irgendwie zeitgemäß zu klingen

Es mag schon sein, dass Berghain-Besucher im Allgemeinen eher an einer zünftigen Abfahrt mit der Option auf Totalabsturz und Afterhour interessiert sind als an popkulturellen Nachhilfestunden im Club. Die „Not Equal“-Reihe, die am Freitag in der dritten Runde im programmatisch immer noch hoch ambitionierten Berghain stattfand, versucht dennoch, Clubabend und Seminar zu verbinden. Das Thema der Unterrichtseinheit hätte lauten können: „Die Einflüsse von Minimal Wave und Industrial auf den Techno von heute“.

So kam man sich dann auch ein bisschen vor wie in der Indie-Disco der Achtziger. DJ Hell durfte sich mit seinen 50 Jahren noch einmal richtig jung fühlen und legte einen Wave-Klassiker nach dem anderen auf, von Fad Gadget bis Cabaret Voltaire war da wirklich alles dabei. Auch Veronica Vasicka, die mit Minimal Wave das Label schlechthin zum gleichlautenden Thema betreibt, führte in ihrem Set vor, wie in den düsteren Synthesizerexperimenten vieler Frühachtziger-Acts die monotonen und repetitiven Strukturen von Techno vorformuliert wurden.

Man kann diese Hommage an die frühen Achtziger aber natürlich auch als Verbeugung vor Chris & Cosey, dem eigentlichen Hauptact des Abends, verstehen, was auch DJ Hell nahelegte, indem er sein DJ-Set ein paar Stunden nach dem Auftritt der Londoner mit „Hot in the Heels of Love“ von Throbbing Gristle eröffnete.

Chris & Cosey, der seit 1981 bestehende Ableger von Throbbing Gristle, den prominentesten Vertretern und Erfindern des Begriffs „Industrial“, gaben ihr erst fünftes Konzert in 30 Jahren in Berlin. Das Duo der beiden Throbbing-Gristle-Mitglieder Cosey Fanni Tutti und Chris Carter hat im Gegensatz zur Stammband in den letzten Jahren kontinuierlich produziert und Platten veröffentlicht. Dabei wurde eine Verbindung von Ritualmusik und Tanzbarkeit gesucht, was dem musikalischen Weg gleicht, den das andere Throbbing-Gristle-Mitglied, Genesis P-Orridge, mit seiner Band Psychic TV beschritten hat. Psychic TV dürfen sich heute genauso wie Chris & Cosey rühmen, zu den Pionieren von Acid House gezählt zu werden. Das, was Chris & Cosey schon vor Jahrzehnten mit angeschoben haben, wurde von anderen weiterentwickelt und letztlich zu dem, was wir heute unter elektronischer Tanzmusik verstehen. Das zu erkennen war ja auch Lernziel des Abends.

Cosey Fanni Tutti und Chris Carter, die eine Zeit lang auch privat ein Paar waren, versuchten bei ihrem Auftritt dann auch erst gar nicht, irgendwie zeitgemäß zu klingen, sondern eher wie ein Retro-Act, wobei das paradoxerweise ja auch schon wieder recht hip wirkte, da die Annäherung an Achtziger-Jahre-Musik ja ein Dauerthema in der aktuellen Clubmusik ist. Auch was die Präsentationsform angeht, zeigten sich Chris & Cosey absolut trendgemäß. Spätestens seit dem Erfolg von Paul Kalkbrenner und Skrillex ist das Liveset das Topthema in den Clubs, und DJs rüsten reihenweise um von Plattenspielern auf Equipment, mit dem sie ihrem Auftritt einen Anstrich von Konzertatmosphäre verleihen möchten. Chris & Cosey, das sei euch Jungravern nochmals gesagt, haben ihre Clubmusik schon immer live gespielt.

Auch der Einsatz von Gadgets ist eine aktuelle Entwicklung in den Clubs. Man spielt live Trommeln zur Musik aus dem Laptop oder lässt sich etwas Ähnliches einfallen. Und siehe da, auch das haben Chris & Cosey natürlich längst drauf. Chris Carter schraubte eifrig an seinen Maschinen den typischen Chris-&-Cosey-Minimal-Wave zurecht, während Cosey Fanni Tutti ihrer Gitarre extrem verzerrte Klänge entlockte und immer wieder in ihr Kornett blies oder mit Nico-Gesten und Nico-Stimme sang. Cosey Fanni Tutti singt schon immer bei Chris & Cosey, und wo wir gerade beim Thema sind: Livegesang im Club, das könnte dank Paul Kalkbrenners Hit „Sky and Sand“ auch bald ein echtes Topthema werden.

ANDREAS HARTMANN