Wo gibt es Worte?

WUNDEN Der Dokumentarfilm „Kein Friede den Frevlern“ folgt Leon Szalet, der das KZ Sachsenhausen überlebte und ein Buch darüber schrieb, durch die Kleinstadtidylle Oranienburgs. Heute wird der Film vorgestellt

Die Einwohner Oranienburgs empfinden die Häftlinge mit Beschimpfungen und warfen mit Steinen und Kot

VON SONJA VOGEL

Diese Erinnerung ließ Leon Szalet zeitlebens nicht los. An jenem Tag im Jahr 1939 entschied der namenlose SS-Blockführer nicht wie sonst, wer leben durfte und wer sterben musste. Er lief auf seinen mit Nägeln beschlagenen Stiefeln über die Rücken der Häftlinge der Baracke 38. „Wie mein Körper brannte. Ich war nicht mehr Haut, Fleisch und Knochen“, erinnert sich Szalet. „Ich war eine einzige Wunde, in der ein Feuer saß und brannte.“ Ganz knapp über die Holzbohlen einer der Baracken in der heutigen Gedenkstätte des KZ Sachsenhausen schwenkend, imitiert die Kamera die Perspektive der Häftlinge.

Leon Szalet war einer von 500 polnischen Juden, die 1939 von Berlin ins KZ Sachsenhausen bei Oranienburg verschleppt wurden. 1940 kam er frei und notierte seine Erinnerungen – daraus entstand das Buch „Baracke 38. 327 Tage in den ‚Judenblocks‘ des KZ Sachsenhausen“, erschienen bei Metropol, 2006. Der Dokumentarfilm „Kein Friede den Frevlern“ von Mikko Linnemann folgt nun Szalets Überlebenszeugnis durch das heutige Oranienburg, einen Ort, wie er kaum normaler sein könnte. Vor der Machtübernahme der Nazis war das Städtchen mit 25.000 EinwohnerInnen unbekannt. Seit aber die „deutschen Todesmühlen“ dort errichtet wurden, „ist der Ruhm Oranienburgs weit über die Grenzen Deutschlands in alle Welt gedrungen“. Die Stimme von Michael Mendl, der Szalets Text spricht, bleibt beinahe tonlos.

Der Schmerz von damals blieb Szalet bis zu seinem Tod 1958 erhalten, ein Schmerz über die Unmöglichkeit, eine Sprache für das Erlebte zu finden. „Wo gibt es Worte?“, fragt Szalet. „Wo kann man Farbe und Pinsel, Marmor und Meißel finden, um diese Totenprozession wiederzugeben?“ Diese Frage bewegte auch Linnemann. Der konventionellen TV-Dokumentation, in denen die ZuschauerInnen aus dem Off die historische Wahrheit serviert bekommen, wollte er etwas entgegensetzen. „Ich wollte die subjektive Sicht“, sagt der Regisseur. „Ich habe versucht, Gegensätze aufeinanderprallen und Leerstellen entstehen zu lassen.“

Die Dokumentation ist durch Gegensätze geprägt. Schnelle Straßenszenen wechseln mit Bildern des Kleinstadtidylls, von umzäunten Reihenhäuschen mit Rosenrabatten und Briefkästen mit Spitzdach. Früher wohnte an dieser Stelle das SS-Lagerpersonal. Ein Zug rast durch den Bahnhof Oranienburg, und das Bild bleibt noch stehen, als die durch die Zugluft heruntergedrückten Grashalme sich längst wieder aufgerichtet haben. An diesem Bahnhof kamen die Häftlinge an. „Viele Zehntausende waren seit 1933 diesen Weg gegangen, aber die Einwohner Oranienburgs waren derartiger Schauspiele noch nicht überdrüssig“, erinnert sich Szalet. Auch ihn empfingen sie, beschimpften ihn, warfen mit Steinen und Kot.

Wie der Kontrast zwischen den friedlichen Bildern und den Grausamkeiten des Berichteten schmerzt, so tut es auch die literarische Qualität von Szalets Zeugnis, die Poesie seiner Sprachbilder. Linnemann hat die Beschreibungen mit Aufnahmen aus der Gedenkstätte unterlegt, mit solchen aus Oranienburg, mit beinahe bewegungslosen Bildern einer Totenstadt unter blauem Himmel. In Szalets Gedächtnis eingebrannt haben sich die Bilder der Blumenbeete hinter den Baracken, sorgsam gepflegt von halb verhungerten Häftlingen. „Während vieler schlafloser Nächte beschäftigte mich der tragische Widerspruch zwischen den lieblichen Blumenbeeten und der verbrechengetränkten Atmosphäre des Lagers und raubte mir die Ruhe. Das wir aber zur Aufzucht unserer Grabesblumen beisteuern mussten, das war mehr als Ironie.“ Auch die Filmmusik zielt auf die Betroffenheit ab, die im Raum zwischen dem Erschrecken über die Unmenschlichkeit und der Schönheit der Beschreibung entsteht: ein anrührendes Geigenspiel, das im blechernen Rattern eines Zuges zerfährt; mechanisch stampfende Maschinenmusik, aus der sich schrille Orgeltöne schälen.

Szalet beschreibt das Lagerleben minutiös: das Steinhaus der Kommandantur, die Wachhäuschen, bestückt mit Scheinwerfern und Maschinengewehren, den Stacheldraht unter Strom, die immer weiter wachsende Barackenstadt – und wie die SS-Männer die Leichen über den Appellplatz kickten. Nichts sollte in Vergessenheit geraten. Trotz Krankheit meldete sich der Häftling zur Arbeitsbrigade Klinker, in der die Menschen wie Fliegen starben. Er wollte alles sehen, um davon zu berichten. Sein Antrieb: „Dass bei der Abrechnung, wenn die Frevler zu Kreuze kriechen und um Gnade betteln würden, diese Beobachtungen mit in die Waagschale geworfen werden könnten.“

■ „Kein Friede den Frevlern“. R.: Mikko Linnemann. D 2011, 40 Min. Moviemento, heute 18.30 Uhr. Anschl. Diskussion