Bis einer heult

TENNIS Beim heute beginnenden ATP-Finale in London muss geklärt werden, wer der Spieler des Jahres ist. Für Andy Murray sprechen nach dem an gleicher Stelle errungenen Olympiasieg die Emotionen

LONDON taz | Wer hätte sich vor ein, zwei Jahren vorstellen können, dass Andy Murray sogar auf dem Gebiet der leichten Unterhaltung Punkte machen würde? Wirkte er nicht spröde, manchmal maulfaul, so anders als der in allen Rollen elegante Roger Federer oder der geborene Showman Novak Djokovic? Nun, der Schotte war der Star des Abends, als sich die Besten des Tennis am Wochenende in den imposanten Königlichen Gerichtshöfen der britischen Hauptstadt zu einer Wohltätigkeitsgala trafen. Auf der Bühne sprach er über die große Unterstützung, die er seit seiner Niederlage im Wimbledon-Finale aus allen Teilen des Landes erfahren hatte, deutete dann auf Federer und meinte gut gelaunt: „Und dieser Typ ist schuld daran, denn er hat mich zum Heulen gebracht. Ich kann ihm nicht genug dafür danken.“ Die Gäste lachten, Federer bog sich auch.

Natürlich wird Andy Murray in dieser Woche auch beim ATP-Finale die Blicke auf sich ziehen. So wie jedes Mal, seit das Turnier der besten acht des Jahres in der stimmungsvollen, fast immer ausverkauften Londoner O2 Arena gespielt wird. Aber diesmal wird er nicht als Herausforderer erscheinen, sondern als Mann mit neuem Profil: Denn nicht nur hat Murray im Sommer Olympisches Gold gewonnen, sondern später bei den US Open auch seinen ersten Grand-Slam-Titel. Diese letzten Monate seien unglaublich gewesen, meinte er in den Königlichen Gerichtshöfen: „Ich hoffe, dass ich das Jahr so zu Ende bringen kann.“

Bis zum kommenden Montag steht der letzte große Titel 2012 auf der Agenda, aber es geht auch um eine Antwort auf die Frage, wer sich als Spieler des Jahres betrachten darf. Jeder der großen vier gewann einen Grand-Slam-Titel – Djokovic in Melbourne, Rafael Nadal in Paris, Federer in Wimbledon und Murray in New York –, und bis auf den seit Monaten verletzt fehlenden Nadal gibt es bei der Wahl auch für jeden gute Argumente. Für Djokovic, weil er zu Beginn auf dem ersten Platz der Weltrangliste stand und das Jahr nach seiner Rückkehr dorthin auch als Nummer eins beenden wird. Für Federer, der im Sommer den siebten Titel in Wimbledon gewonnen hatte, für knapp vier Monate auf den Gipfel zurückgekehrt war und damit den alten, von Pete Sampras gehaltenen Rekord von 286 Wochen als Nummer eins auf 303 verbessert hatte. Und für Murray wegen der bahnbrechenden Siege bei den Olympischen Spielen und in New York. Ist der Schotte wegen der Emotionen der Mann des Tennisjahres 2012? Oder doch eher Federer?

Ein Sieg beim Turnier der Besten könnte diese Frage klären. Im vergangenen Jahr schnappte sich der Meister aus der Schweiz den sechsten Titel und überholte die bisher in der Rekordliste führenden Pete Sampras und Ivan Lendl. Bei seinen ersten vier Siegen in Houston/Texas und Schanghai hieß das Turnier noch Masters Cup, seit dem Umzug nach London vor drei Jahren heißt es offiziell ATP World Tour Finals, und ginge es nach den Spielern, dann spräche alles dafür, über 2013 hinaus in der blauen Arena am Ufer der Themse zu bleiben. Ob mit Murray oder ohne. DORIS HENKEL