Gewählt, aber noch nichts entschieden

Große Koalition? Schwarz-Gelb? Rot-Grün? Rot-Rot-Grün? Minderheitenregierung? Die Fragen, die sich vor den Wahlen stellten, wurden bis gestern abend nicht beantwortet. So knapp war nach den Hochrechnungen der Unterschied zwischen CDU und SPD, dass weiter offen ist, wer die Regierung stellt

Willkommen im Vakuum nach der Wahl. Noch am Freitag war die Zeit des brutalst-möglichen Schlagabtauschs. Im Landtag Hannover war der nunmehr Neu-Bundestagler Sigmar Gabriel (SPD) der CDU-Fraktion mit der Nazivergleichskeule gekommen. „So etwas haben bisher in Deutschland nur Nazis gemacht“, hatte er gesagt. „Die fangen schon mit dem Krawall an, bevor angefangen wird zu reden.“ Heute wird er das nicht wiederholen. Denn es ist gewählt. Und nichts ist entschieden: Die rechnerische Mehrheit der Koalition ist wackelig. Da geht vor der Nachwahl in Dresden gar nix. Klar, man wird sich ein bisschen abtasten. Aber feste Vereinbarungen? Eher nicht. Und die Koalition, die jetzt sicher möglich ist, hatte man vor der Wahl ausgeschlossen. Kategorisch.

Jetzt ist aber Macht-Vakanz. Die Zeit der zarten Töne hat begonnen. Und das Wahltagszittern geht auch im Norden weiter: Klar, da gibt es noch Wahlanfechtungen. Aber die muss man nicht so Ernst nehmen. Dresdens Nachwahl ist viel wichtiger. Die kann bedeuten, dass ein knapp errungener Listenplatz in einem Bundesland mit weniger Einwohnern wieder flöten geht. Sprich: In Bremen, in Mecklenburg-Vorpommern und in Hamburg ist das gar nicht so unwahrscheinlich: Keines dieser Länder hat mehr als zwei Millionen Einwohner. Die Wahl-Arithmetik ist kompliziert. Es ist gewählt. Aber noch nicht viel entschieden. Wenn sie sich nur knapp gewählt fühlen ist es besser, die Koffer für die Reise nach Berlin noch nicht zu packen.

Besonders sensibel reagiert die Börse auf eine solche Vakanz. Die Chefs der hanseatischen Kreditinstitute, die sonst nicht so schnell etwas aus der Ruhe bringt, sind besorgt. Auch Carsten Klude, Chefvolkswirt der Hamburger Privatbank MM Warburg.

taz: Die Börse reagiert auf Wahlen sensibel, oder?

Carsten Klude: Definitiv. Weil ja mit den Wahlen die zukünftige Politik beeinflusst wird. Und auf die Zukunftserwartungen, wie sich Unternehmensgewinne entwickeln werden, haben die Parteien und die Parteipolitik einen ganz entscheidenden Einfluss.

Nun haben wir bei dieser Wahl eine Sondersituation. Dresden wählt erst zwei Wochen später, und es ist nicht klar, welche Koalition es geben wird. Es sieht so aus, als ob es eine längere Zeit der Unsicherheit gibt, eine Art Machtvakuum oder eine Vakanz.

Machtvakuum ist eigentlich immer das Unangenehmste, so etwas mag die Börse überhaupt nicht. In einem solchen Fall würde sie sehr negativ reagieren, man müsste davon ausgehen, dass es zu – möglicherweise durchaus deutlichen – Kursverlusten kommt. Die Börse hat ganz klare Ausgänge am liebsten, darauf kann sie sich einen Reim machen, da kann sie direkte Einschätzungen treffen, wie es weiter geht. Bei einem Vakuum ist das nicht möglich. Unsicherheit ist letztendlich der Börse größter Feind.

Was wäre die Lieblingskoalition der Börse?

Eine bürgerliche, also schwarz-gelbe Regierung wird von der Börse tendenziell immer lieber gesehen als rot-rot-grün oder sonstige Konstellationen. Weil man davon ausgeht, dass eine solche Regierung insgesamt eine etwas wirtschaftsfreundlichere Politik macht, von der die Unternehmen profitieren, von der auch die Volkswirtschaft insgesamt stärker profitiert.

Was wäre für die Börse schlimmer: eine Wackelpartie, die sich über Wochen hinzieht, oder eine Koalition mit der Linkspartei?

Ich glaube, eine Koalition mit der Linkspartei wäre für die Börse ein Desaster. Wenn man sich das Wahlprogramm anschaut, stehen da Dinge drin, die die Börse überhaupt nicht mag, seien es höhere Steuern, Wiedereinführung von Vermögenssteuer und Erbschaftssteuer, all diese Geschichten, die aus Sicht der Börse dem Standort Deutschland schaden würden. Außerdem wären damit erst einmal alle weiteren Reformbemühungen tot, das Vertrauen in eine berechenbare Wirtschaftspolitik bliebe aus, Investitionen brechen weg. Das wäre letztendlich sogar noch schlimmer als eine Unsicherheit, weil man da wenigstens noch die Hoffnung haben könnte, dass es zu einer anderen Koalition kommt.

Was sagt die Börse zur Option einer großen Koalition?

Auch da hat sie einige Vorbehalte, weil man glaubt, dass, wenn es zu Reformen kommt, diese nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner möglich wären. Insofern wäre auch das kein ideales Szenario für den deutschen Aktienmarkt. Gerade die SPD käme außerdem in eine Zwickmühle. Soll sie das soziale Gewissen spielen oder weiter Reformen mitmachen? Daraus könnte eine ziemliche Unberechenbarkeit erwachsen.

Soll man in einer Zeit der Unsicherheit überhaupt kaufen, oder soll man lieber abwarten?

Grundsätzlich wäre meine Empfehlung, sich an den fundamentalen Rahmenbedingungen zu orientieren. Und die sehen eigentlich für den deutschen Aktienmarkt gut aus, weil die Unternehmen zur Zeit relativ hohe Gewinne einfahren, sich gut im internationalen Wettbewerb positioniert haben. Daran wird auch die Bundestagswahl nichts ändern. Man kann also ein relativ positives Votum für deutsche Aktien abgeben.

Es kann also zu Schwankungen kommen, aber die wären vorübergehend?

Ja, bis auf den Fall einer rot-rot-grünen Koalition. Dieser Fall wäre wahrscheinlich längerfristig negativ für den Aktienmarkt. Insbesondere die ausländischen Anleger, die in den vergangenen zwei, drei Monaten sehr stark in den deutschen Aktienmarkt investiert haben, würden sich sicher für längere Zeit zurückziehen.

Ihr Tipp: kaufen oder nicht kaufen?

Wenn es am Tag nach der Wahl nicht nach einem Desaster für den Aktienmarkt aussieht, also wenn wir eine schwarz-gelbe oder auch eine große Koalition bekommen sollten, dann würd’ ich tendenziell eher kaufen.

Interview: Daniel Wiese