Suche nach Quäntchen

Osnabrück unterliegt Holstein Kiel im Regionalliga-Spitzenspiel 2:3 und verliert den Anschluss an die Aufstiegsränge. Irgendwas fehlte dem VfL in den letzten Spielen. Nur was, das wüssten sie selbst gern

Es lief bereits die 70. Spielminute, als Marcus Wedau sich im Mittelkreis veranlasst sah, seine Mitspieler anzutreiben: „Kommt weiter, wir machen das noch“, brüllte der 29-jährige so laut, dass es selbst auf der Tribüne noch deutlich zu hören war, „Komm, komm!“

Der Grund für den emotionalen Ausbruch war ein verwandelter Elfmeter seines Mannschaftskollegen Thomas Reichenberger, der den VfL zurück in eine verrückte Partie brachte, die eigentlich schon verloren schien.

So schwach hatte Osnabrück in den ersten 45 Minuten gespielt, dass sich selbst Kieler Anhänger verwundert die Augen rieben. Ihr Team zeigte die schwungvollsten 45 Minuten der Saison, während der VfL kaum aus der eigenen Hälfte heraus kam, ohne weite Bälle zu schlagen. Mit dem 0:1-Pausenrückstand durch Pavel Dobry (43. Minute) waren die Niedersachsen noch gut bedient. „Wir haben das Spiel etwas schleppend begonnen“, fand Trainer Claus-Dieter Wollitz eine beschönigende Formulierung und obwohl er in der Kabine wohl deutlichere Wort gefunden haben wird, lief es in der zweiten Hälfte zunächst nicht besser.

Der zwischenzeitliche Ausgleich von Reichenberger (52.) hielt keine zwei Minuten, dann hatte Dobry die alte Ordnung wieder hergestellt.

Zu diesem Zeitpunkt schien die Hoffnung der mitgereisten VfL-Fans endgültig gestorben. Merklich ruhig wurde es im Gästeblock. Doch ihre Mannschaft, in der Marcus Wedau das einzige neue Gesicht im Vergleich zum Vorjahr ist, reagierte beeindruckend. Es begann die stärkste Phase im Spiel der Gäste, dann traf Reichenberger per Elfmeter – und der VfL wurde noch stärker. Das Spiel kippte völlig, jeder im Stadion rechnete nun damit, dass Osnabrück drei Punkte entführt: Reichenberger scheiterte aus kurzer Distanz, Wedau zielte aus 16 Metern vorbei, Schäfer traf aus gleicher Distanz nur den Innenpfosten.

Doch wieder zeigte sich, dass in diesem Spiel nichts vorhersehbar sein sollte. Ryan Coiner, Kiels treffsicherster Angreifer, setzte sich bei einem Entlastungsangriff gegen drei Verteidiger durch und erzielte dass 3:2 (86.). Ein Tor wie ein Schlag ins Gesicht des VfL, dem schon letzte Woche gegen Jena kurz vor Schluss die Punkte aus den Händen glitten.

„Bei diesem Spielverlauf ist das natürlich besonders enttäuschend“ trauerte Thomas Reichenberger den liegen gelassenen Punkten hinterher. Nur einen Zähler aus den letzten drei Spielen – zu wenig für einen Aufstiegsaspiranten. Doch was ist der Grund für diese mangelhafte Ausbeute?

„Irgendwas fehlte uns in den letzten Wochen“, mutmaßt Reichenberger. Nur was genau? „Vielleicht die letzte Entschlossenheit.“ „Obwohl“, besinnt er sich, „heute hatten wir die eigentlich.“ Ratlosigkeit.

Auch Marcus Wedau weiß nicht wirklich weiter. „Im Großen und Ganzen haben wir uns nichts vorzuwerfen – heute fehlte halt das letzte Quäntchen.“

Da sind sie wieder, zwei willkommene Bekannte in der Erklärungsnot: das gute alte Quäntchen Glück und die letzte Entschlossenheit. Immer gerne bemüht, wenn im Fußball etwas nicht hat sein sollen. Doch dienen sie eher als Durchhalteparole, denn als Erklärungsansatz. Also was hat gefehlt?

Vielleicht der ein oder andere verletzte Spieler? Alexander Nouri z. B., der – wenn man dem Osnabrücker Umfeld glauben schenkt – im Mittelfeld nicht zu ersetzen ist. Überhaupt ist der Kader nach vielen verletzungsbedingten Ausfällen sehr dünn bestückt. Gegen Kiel saßen nur vier Feldspieler auf der Auswechselbank.

Nein, an fehlenden Spielern könne es nicht festgemacht werden, sagt Pele Wollitz, „uns hat heute einfach das Quäntchen Glück gefehlt und die letzte Konsequenz.“ Aha.

Der Trainer steht in den Katakomben des Holstein-Stadions und redet und redet. Über Entschlossenheit, Mut, offensive Spielweise. „Modern, handlungsorientiert, nach vorne gerichtet – das ist meine Philosophie.“ Und wie er sich so in einen Rausch redet, bekommt man irgendwie das Gefühl, er verteidige sich, dabei wurde er überhaupt nicht angegriffen.

Seine Manschaft habe auch in Kiel wieder unter Beweis gestellt, dass sie leidenschaftlichen und herzerfrischenden Offensivfußball spielen kann. Zumindest in der zweiten Halbzeit. „Das hat uns schon letztes Jahr ausgezeichnet“, sagt Wollitz, „gerade auswärts.“

Deshalb ist er auch übezeugt, dass der Erfolg wiederkommen wird: „Jetzt wird von einer Talfahrt geschrieben, aber das ist doch keine Talfahrt. Wir werden weitermachen“, sagt Wollitz und klingt entschlossen, „entscheidend ist der Wille.“ HENDRIK TERNIEDEN